Verborgene Lust
Distanz«, sagt er. Sie weiß nicht genau, was er damit meint.
Bevor sie das Haus in der Ebury Bridge Road erreichen, trennen sie sich. Sie haben nie darüber gesprochen, aber offenbar will keiner von ihnen, dass ihre »Beziehung« bekannt wird. Maria ist sicher, dass Jacqueline das Verhältnis zu dem Franzosen nicht billigen würde. Aber selbst wenn Maria mutig genug wäre, ihr davon zu erzählen, wüsste sie nicht, wie sie beschreiben sollte, was zwischen ihnen ist. Bislang hat Felix sie noch nicht einmal richtig geküsst. Sie haben sich in den letzten zwei Wochen häufig gesehen, aber er hat immer nur ihre Hand gehalten. Doch sie spürt, dass etwas schwelt. Je länger sie darüber nachdenkt, desto begieriger wird sie. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf, ihr Instinkt, warnt sie, dass dieser Mann trotz seiner anfänglichen Zurückhaltung unersättlich ist. Er umzingelt sie und arbeitet sich langsam an sie heran, bis sie nicht mehr fort kann. Doch noch stärker als ihre Angst ist ihr Verlangen. Sie will ihm in die Falle gehen.
Zwei Wochen vor der Aufführung von Pandora verstaucht Alicia sich bei einer Probe den Knöchel, und Lempert muss die Rolle der Psyche neu besetzen. Zu Marias großer Überraschung entscheidet er sich für sie. Abgesehen von Joan reagieren die anderen Tänzerinnen kühl. Sie taxieren Maria mit ihren Blicken, heben die Brauen und zischen sie feindselig an. Maria ist schockiert. Sie kann die Rolle nicht ablehnen, aber sie weiß nicht, ob sie schon bereit für einen solchen Auftritt ist.
Nach dem Unterricht, als die anderen gegangen sind, sucht Maria den Tanzlehrer auf. Ihr fallen mindestens drei andere Tänzerinnen ein, die die Rolle der Psyche besser als sie tanzen können.
Als sie an die Tür zu Lemperts Büro klopft, fällt ihr auf, dass sie noch nie gesehen hat, wie es dahinter aussieht. Was wird ihr das Büro über diesen Mann verraten? Er ist fast so geheimnisvoll wie Felix. Ein Fremder in London, ein Flüchtling aus der Zeit vor dem Krieg. Sie weiß, dass er deutscher Jude ist, aber sie hat keine Ahnung, ob er verheiratet ist oder Kinder hat. Sie hat ihn nie mit einer Familie gesehen. Er ruft sie herein. Tatsächlich verrät ihr sein Büro etwas über ihn. Es ist spärlich eingerichtet. Die nackten Wände sind in einem hellen Amtsstubengrün gestrichen, und der winzige Raum wird von einem großen Schreibtisch beherrscht, auf dem sich Zeitungen stapeln. Lempert selbst sitzt in einem Ohrensessel hinter dem Schreibtisch. Er liest die Times , und als er die Zeitung sinken lässt, um sie anzusehen, stellt Maria überrascht fest, dass eine Brille auf seiner Nasenspitze sitzt. Es beunruhigt sie, diesen Mann, der sonst stets in Bewegung ist, so ruhig zu erleben und von ihm gemustert zu werden.
»Nun«, sagt er, als befänden sie sich inmitten einer Unterhaltung. »Was meinen Sie, Miss Brzezinska? Steht uns ein weiterer Krieg bevor?«
Maria denkt an Guido, der über die Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkriegs schwadroniert hat – Russland gegen Amerika, und Europa wäre zwischen den Fronten gefangen.
»Ich bin nicht sicher«, antwortet sie vage.
»Sie sind Italienerin«, stellt er fest. »Aber Ihr Name ist nicht italienisch. Brzezinska? Polnisch? Jüdisch?«
»Ich bin in Venedig aufgewachsen«, erklärt sie. »Aber meine Mutter ist Polin. Sie spricht jedoch nie von ihrer Heimat. Ich weiß nicht, woher sie stammt.«
Lempert nickt wissend.
»Ich glaube, dass nicht viele überlebt haben, die in Polen geblieben sind.« Er seufzt und schüttelt den Kopf. »Ich habe Deutschland lange vor dem Krieg verlassen, aber ich empfinde noch immer Sehnsucht nach meinem Heimatland, so wie es vorher war.«
Maria möchte sich auf keinen Fall mit ihrem Tanzlehrer über den Krieg unterhalten, aber wie soll sie das Thema wechseln?
»Haben Sie den Krieg in London verbracht?«
»In Devon«, erwidert er. »Dort haben wir mit dem Tanztheater begonnen, nachdem wir Deutschland verlassen hatten. Nach London bin ich 1946 gekommen. Die Schule ist neu, nicht das Gebäude natürlich, aber wir haben sie erst vor zwei Jahren eröffnet. Doch das hat Ihnen die liebe Jacqueline sicher alles erzählt.«
»Ja, das hat sie.« Maria befeuchtet nervös ihre Lippen.
»Nun, Liebes, warum statten Sie mir einen Besuch ab?«
»Es ist … nun … ich verstehe nicht, warum Sie mir die Rolle der Psyche gegeben haben.«
Lempert hebt die Brauen und wirkt leicht verärgert. »Was meinen Sie?«
»Ich weiß einfach nicht, ob
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