Verborgene Lust
ich gut genug bin. Ob ich schon bereit bin«, stammelt sie.
»Ich glaube, das kann ich besser beurteilen«, erwidert Lempert.
»Aber ich bin erst seit drei Monaten hier.«
»Ich werde es Ihnen erklären.« Lempert beugt sich vor. »Technik ist wichtig, aber denken Sie daran, dass sie nicht das einzige Kriterium ist, nach dem ich meine Tänzer auswähle. Für die Psyche brauche ich eine gewisse Leichtigkeit, etwas Überirdisches. Alicia besitzt diese Qualität. Sie sind die einzige Tänzerin der Kompanie, die ihr darin ähnlich ist.«
Er hustet und beginnt die Zeitung zusammenzufalten.
»Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht ideal ist, Maria, aber wenn Sie hart arbeiten, können Sie es schaffen.«
Er steht auf und streicht sich die Hosen glatt. Sie weiß, dass sie gehen muss, aber in ihr steigt Panik auf. Sie fühlt, dass sie noch nicht so weit ist, ein Solo zu tanzen. Warum sieht er das nicht?
»Sir, ich glaube, Sie sollten nicht das Risiko eingehen, mich als Psyche zu besetzen. Ich bin noch nicht bereit für ein Solo.«
Er unterbricht sie.
»Wann sind wir im Leben schon für etwas bereit, meine liebe Maria?« Plötzlich beugt er sich vor, fasst ihr Kinn und zwingt sie, ihm direkt in die Augen zu sehen. Die Intimität dieser Geste beunruhigt sie. Sie hat das Gefühl, dass er über etwas anderes als das Tanzen spricht. »Sie müssen vom Rand der Klippe springen. Seien Sie mutig. Vielleicht werden Sie fallen, aber wenn Sie wieder aufstehen, ist das keine Schande.«
Als Maria die Straße hinuntergeht, ist sie den Tränen nahe. Sie will nicht mutig sein. Sie will sich nicht lächerlich machen. Sie sieht schon den Spott auf den Gesichtern ihrer Mittänzerinnen vor sich. Wie sie sie demütigen werden. Sie ist so in Gedanken, dass sie im ersten Moment gar nicht bemerkt, dass Felix neben ihr geht. Sie registriert ihn erst, als er ihr seine Hand auf die Schulter legt. Sie bleibt abrupt stehen und sieht ihn an.
»Was ist mit dir? Was ist denn, Maria?«, fragt er.
»Das Mädchen, das die Psyche in Pandora spielt, hat sich den Knöchel verstaucht, und Lempert hat mir die Rolle gegeben«, platzt sie in weinerlichem Ton heraus.
Felix scheint verwirrt.
»Ist das denn nicht gut?«
»Nein, weil ich nicht gut genug für die Rolle bin.«
»Natürlich bist du das. Sonst hätte er dich nicht besetzt.«
»Ich weiß nicht, warum er mich ausgewählt hat«, sagt sie verzweifelt. »Er hat etwas von Leichtigkeit gesagt …«
»Ah, er sieht die engelhafte Maria.«
Trotz ihrer Aufregung wird ihr bei Felix’ Bemerkung warm ums Herz. Er steckt seine Hand in ihre Tasche, und sie spürt, wie er die Finger spreizt und durch den leichten Stoff des Rockes die Finger gegen ihre Haut drückt.
»Er erkennt, dass ein Engel in dir steckt. Er will etwas Zartes.« Felix nickt wissend. »Ich bezweifle, dass eine der anderen Tänzerinnen so rein ist wie du.«
Sie errötet tief. Schließlich weiß Felix, wie unberührt sie ist.
»Du musst die Rolle tanzen, Maria«, sagt er. »Hab keine Angst. Ich werde dir zusehen und dich filmen.«
»Das macht mich noch nervöser«, murmelt sie, doch insgeheim fasziniert sie die Vorstellung.
An diesem Abend gehen sie in den Battersea Park und bewundern gemeinsam die Skulpturen. Sie laufen Hand in Hand wie ein verliebtes junges Paar, nur dass Felix ihr Vater sein könnte. Maria betrachtet die grauen Strähnen in seinen Haaren und liebt jede einzelne von ihnen. Still und nachdenklich blinzelt Felix ins Sonnenlicht. Wie denkt er wirklich über sie? Maria kann sich nicht erklären, warum er ihre Gesellschaft sucht. Sicher kennt er viele Frauen, die deutlich interessanter sind als sie selbst.
Felix führt sie einen Weg entlang und durch ein paar Rhododendronbüsche hindurch, dann setzen sie sich an einen kleinen trüben Teich aufs Gras. Felix breitet seine Jacke aus, damit sie sich daraufsetzen kann. Hier sind sie geschützt vor dem grauen Nachkriegslondon, das um den Wiederaufbau kämpft. Sie befinden sich in einer kleinen grünen Oase. Maria zieht die Schuhe aus und fährt mit ihren bestrumpften Zehen durch die Grashalme.
»So schmale Knöchel«, stellt Felix fest, beugt sich vor, nimmt einen ihrer Füße und wiegt ihn in der Hand.
»Meine Füße sind hässlich«, widerspricht Maria. »Alle Tänzer haben hässliche Füße.«
»Sie sind nur stark beansprucht.«
Felix streicht über ihre Fußsohle, das Nylon gleitet über ihre Haut. Sie kichert und kommt sich albern und ungelenk vor. Sie versucht, das Bein
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