Verborgene Lust
von Louis und Joan gespürt hat, ist wieder da. Ein alles beherrschendes Ziehen.
»Ich will, dass du mich noch mehr berührst«, flüstert sie schließlich, und ihre Wangen röten sich vor Scham.
Er lächelt triumphierend, setzt sich auf die Fersen und sieht sie an.
»Noch nicht«, sagt er. »Wenn ich das täte, wäre ich kein Gentleman.« Sie begreift, dass er sie neckt. Sie sollte verärgert sein, aber das ist sie nicht. Das Spiel gefällt ihr, das Spiel mit der Macht. Außerdem kommt sie vielleicht wieder zur Besinnung und kann ihm das nächste Mal widerstehen. Ihr ist klar, dass ein braves Mädchen so etwas nicht tut, aber wer sind diese braven Mädchen? Joan nicht, und auch keine der anderen Tänzerinnen, ihre Mutter und Pina ebenso wenig. Die braven Mädchen sind eine Erfindung der Männer. Es sind unrealistische Bilder von Vollkommenheit, die es den Männern ermöglichen, die Frauen zu erniedrigen, die sich daraufhin schämen. Maria mag unerfahren sein, sogar schüchtern, aber sie ist auch ein Freigeist wie ihre Mutter. Sie weigert sich, sich als Sünderin zu fühlen.
Eine Weile sitzen sie schweigend im Gras und beobachten die Wolken am Himmel. Maria hat beide Strümpfe ausgezogen und in ihre Tasche gesteckt. Ihr Körper reagiert noch immer äußerst empfindlich, aber ihr Herzschlag hat sich beruhigt.
»Wir hätten etwas Brot für die Enten mitbringen sollen«, bemerkt sie.
»Ich glaube, es ist schwer genug, Brot für uns zu bekommen. Da sollten wir uns nicht um Enten sorgen«, antwortet Felix.
»Glaubst du, die Knappheit bleibt für immer?«, fragt Maria. »Jacqueline meint, dass sie das Brot bald nicht mehr rationieren werden.«
»Bist du jemals hungrig gewesen, Maria?«, will Felix wissen. »Ich meine, wirklich hungrig.«
So wie er fragt, ist Maria klar, dass er weiß, was Hunger ist.
»Nein, nicht wirklich«, sagt sie. »Es gab Engpässe. Wir haben ganz bestimmt nicht wie die Könige gelebt, vor allem gegen Kriegsende, aber meine Mutter und Pina waren erfinderisch. Es hat immer gerade gereicht.«
Felix pflückt ein Gänseblümchen von der Wiese und zupft nacheinander die Blätter ab.
»Wann bist du nach England gekommen, Felix?«, fragt Maria. »Dein Englisch ist sehr gut.«
Einen Augenblick schweigt er. Sein Gesicht ist wachsam, und kurz denkt sie, er würde ihr nicht antworten.
»1946, aber meine Großmutter war Engländerin. Ich habe es bereits als Kind gelernt.«
»Dann bist du kurz nach dem Krieg nach London gekommen?«
»Ja.«
»Und wo warst du während des Kriegs?«
»In Lyon«, antwortet er knapp und steht auf. Er reicht ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, und klopft ihr mit einer väterlichen Geste das Gras vom Rock.
»Aber Felix, warum hast du Frankreich nach dem Krieg verlassen? Warum bist du nach London gekommen?«
Er hält in der Bewegung inne, tritt zurück und mustert sie mit kühlem Blick.
»Das geht dich nichts an, junge Dame.«
Seine Stimme klingt so anders, dass sie erschrocken ein Stück zurückweicht.
»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht aushorchen.«
»Dann hör auf, mir Fragen zu stellen«, seine Stimme klingt wieder sanfter, »du solltest es besser wissen. Du bist eine intelligente Frau. Die Menschen wollen jetzt einfach weiterleben. Sie wollen die Vergangenheit hinter sich lassen. Ich will nicht darüber reden, mit niemandem.«
Er nimmt ihre Hand, aber Maria fühlt sich starr und kalt, irgendwie unsicher. Wer ist dieser Mann, den sie so sehr begehrt?
»Komm, ich bringe dich lieber nach Hause. Deine Jacqueline wird sich wundern, wo du bleibst.«
Gerade als sie sich am Tor zum Park trennen wollen, sieht Maria Guido. Er kommt schnell mit dem Fahrrad auf sie zu. Seine dicken gelockten Haare wehen in einem dichten Schopf nach oben. Sie sieht sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Kann sie zwischen die Bäume verschwinden? Aber es ist zu spät. Guido hat angehalten und starrt unverhohlen von der anderen Straßenseite zu ihnen herüber.
»Da ist Guido«, flüstert sie Felix zu.
Felix zuckt mit den Schultern, als sei ihm das egal, aber sie spürt, dass er sich anspannt.
Ohne sich an den Händen zu halten, überqueren sie gemeinsam die Straße.
»Guten Tag, Signor Rosselli.« Felix tippt zum Gruß an seinen Hut.
Maria kann Guido nicht ins Gesicht sehen. Sie spürt den Blick des Italieners auf sich. Die Röte kriecht ihren Nacken hinauf und fließt in ihre Wangen. Warum muss sie so schuldbewusst aussehen? Schließlich hat Felix nur ihre Füße gestreichelt.
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