Verborgene Lust
spürt Maria, dass sie noch nicht so weit ist. Ihr Körper ist angespannt und wund, ihre Füße sind von Blasen übersät. Und egal wie sehr sie sich anstrengt, sie weiß, dass sie nicht so tanzen kann wie Joan. Sie denkt daran, wie überrascht Jacqueline war, als sie ihr erzählt hat, dass man ihr eine Hauptrolle gegeben hat. Obwohl Jacqueline ihr Mut zugesprochen hat, weiß Maria, dass sie ihr die Rolle nicht zutraut.
»Ich frage mich, warum«, bemerkte Jacqueline erst vor drei Tagen, als sie auf einem zähen grauen Kotelett herumkauten.
»Warum was?«
»Warum Lempert dich für die Psyche besetzt hat.«
»Er sagte, dass ich die einzige Tänzerin sei, die Alicias Leichtigkeit habe.«
Sie nickte. »Ja, aber Alicia tanzt seit zwei Jahren bei ihm. Sie war in Dartington wie Joan, und davor hat sie im Ballett trainiert.«
Maria zerkaut heldenhaft das harte Fleisch und zwingt es mit einem Schluck Wasser ihre Kehle hinunter.
»Willst du, dass ich mit ihm spreche? Soll ich ihn bitten, jemand mit mehr Erfahrung zu besetzen? Ich meine, schlimmstenfalls könnte ich sogar übernehmen«, hatte Jacqueline angeboten. Maria war selbst überrascht, dass sie sich über das Angebot ärgerte. Nachdem sie selbst die Rolle zunächst nicht hatte übernehmen wollen, empfand sie Jacquelines mangelndes Vertrauen und ihren Vorschlag jetzt trotzdem als Affront.
»Ich glaube, ich sollte es tun, oder? Außerdem ist es jetzt zu spät.« Maria hatte Jacqueline herausfordernd angesehen.
Ihre Mentorin blickte auf ihren Teller und schnitt ein weiteres Stück Fleisch ab.
»Natürlich, Liebes. Deine Mutter wäre sehr stolz. Hast du es ihr geschrieben?«
Maria nickte. Ihr Brief war beschämend kurz gewesen, weil sie Belle nicht von Felix erzählen konnte. Sie wusste nicht, warum. Ihre Mutter und Pina waren nicht engstirnig. Und doch erinnerte sie sich an Pinas letzte Worte in Venedig: Sei vorsichtig! Und die Erklärung ihrer Mutter, dass sich Pinas Warnung auf Männer bezöge. Es war, als wollten ihre Mütter ihr sagen, dass sich in dem anderen Geschlecht ein Unheil verberge, von dem Maria nichts ahnte.
Noch überraschender schien es Maria, dass Guido Jacqueline nichts von Felix gesagt hatte, auch nicht, nachdem er Maria darauf angesprochen hatte. Seit er sie zusammen aus dem Battersea Park hatte kommen sehen, mied Maria ihn. Doch letzten Samstag war sie ihm im Treppenhaus begegnet. Sie ist sich sicher, dass Guido ihr aufgelauert hat.
»Guten Morgen«, sagte sie strahlend und versuchte, sich an ihm vorbeizuschlängeln.
»Warte, Maria«, sagte Guido hinter ihr.
»Ich kann nicht. Ich muss mich in der Fleischschlange anstellen. Ich will nicht den ganzen Tag warten müssen.«
»Ich begleite dich.«
Er folgte ihr nach draußen. Es regnete, und sie hatte den Regenschirm vergessen, wollte aber nicht noch einmal zurückgehen und Guido einen Grund liefern, sie noch weiter aufzuhalten oder noch schlimmer, mit ihm gemeinsam Felix zu begegnen.
Guido ging neben ihr her. Sie bemerkte, wie dürr er war. Die Hosen schlackerten um seine Hüften, und das Gesicht mit dem dicken Schnurrbart und mit der langen schmalen Nase, auf der ganz vorn seine Brille saß, wirkte spitz. Er sah aus wie Groucho Marx, der Komiker. Aber noch nie war sie jemandem begegnet, der so wenig Humor besaß.
»Sollten wir nicht zurückgehen und einen Schirm holen?«, fragte Guido, wischte mit einem Taschentuch die Gläser seiner Brille trocken und setzte sie anschließend wieder auf, damit sie erneut nass wurde.
»Nein, der Regen macht mir nichts aus«, log sie und eilte mit gesenktem Kopf weiter.
»Du kommst aus Venedig. Da bist du Wasser vermutlich gewöhnt«, bemerkte er.
Eine Weile waren sie schweigend nebeneinander hergelaufen. Maria machte einen Bogen um die größeren Pfützen, während Guido direkt hindurchwatete.
»Gefällt dir London?«, wollte Guido auf einmal wissen.
»Ja«, sagte Maria und stellte fest, dass sie eine Zuneigung zu der Stadt entwickelt hatte. »In London gibt es so viele verschiedene Menschen. Das gefällt mir«, fügte sie erklärend hinzu.
»Das stimmt.« Guido zögerte. »Aber deshalb musst du vorsichtig sein. Nicht jeder ist der, für den man ihn hält.«
»In welcher Hinsicht?«
»Nun, vielleicht hast du Vorurteile gegen die deutschen Kriegsgefangenen, die jetzt bei uns leben, aber eigentlich kann man sie auch als Opfer betrachten. Wenn man sich mit ihnen unterhält, sind es junge Männer, die Befehle ausgeführt haben. Sie hatten keine
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