Verborgene Lust
Wahl.«
»Kennst du denn einen deutschen Kriegsgefangenen?« Ausnahmsweise sah sie ihn mit Interesse an.
»Ja. Der Pförtner meiner Schule hat einen solchen Kameraden als Hilfskraft. Er heißt Hemmel und ist sehr, sehr traurig. Er hat mir erzählt, dass er alles verloren hat, alle Menschen, die ihm etwas bedeutet haben.«
Maria schürzte die Lippen.
»So viele Nationalitäten haben unter dem Krieg gelitten.«
»Ich weiß«, unterbrach Guido. »Die Italiener haben auch nicht weniger gelitten als andere. Darum geht es mir nicht.«
»Worum dann?«, wollte sie wissen und war plötzlich gereizt. »Ich habe es eilig.«
»Dich in die Metzgerschlange zu stellen und dem Gerede der englischen Hausfrauen zuzuhören?« Er sah sie spöttisch an.
»Ja«, sagte sie abwehrend. »Das kann manchmal sehr interessant sein. Wir reden nicht nur Blödsinn. Vielmehr spricht momentan jeder von einem Dritten Weltkrieg. Man sagt, dass die Russen kommen.«
Guido kniff die Augen zusammen.
»Ich verstehe nicht, warum die Arbeiter und Arbeiterinnen eine solche Angst vor dem Kommunismus haben. Schließlich geht es um ihre Befreiung.«
»Bist du Kommunist?«, flüsterte Maria erschrocken.
Guido hatte den Kopf geschüttelt und war einen Schritt zurückgetreten, aber etwas an seiner Art sagte Maria, dass er es sehr wohl war.
»Maria«, meinte er, »ich begleite dich nicht, damit wir über politische Ansichten diskutieren.«
»Nun, weshalb dann?«
»Ich habe dich neulich mit Felix aus dem Park kommen sehen.«
Er wandte ihr das Gesicht zu, doch seine Brillengläser waren zu nass, als dass sie den Ausdruck in seinen Augen erkennen konnte.
»Ich weiß, aber was geht dich das an?«, entgegnete sie und beschleunigte ihren Schritt.
Wenn er doch nur verschwinden würde.
»Ich wusste nicht, dass ihr befreundet seid.«
»Nun, das sind wir«, stieß sie hervor. »Wenn du dir die Mühe geben würdest, mit ihm zu sprechen, wüsstest du, dass er ein netter Mann ist.«
Sie klang lächerlich. Das letzte Wort, mit dem sie Felix beschreiben würde, war nett. Interessant. Kompliziert. Faszinierend. Aber nicht nett.
»Du solltest vorsichtig sein«, warnte Guido. »Er ist nicht das, was er zu sein scheint.«
»Was meinst du genau?«
Sie blieb stehen und wandte ihm das Gesicht zu. Es war ihr egal, dass sie beide völlig durchnässt wurden. Sie war wütend auf Guido. Wie konnte er es wagen, über Felix zu urteilen, wenn er ihn gar nicht kannte? Sie hatte das Gefühl, ihn schützen zu müssen.
»Ich will es dir erklären«, sagte Guido hastig, der offenbar ihre Feindseligkeit spürte. »Wenn wir jetzt in Paris und nicht in London wären, wäre das eine andere Geschichte.«
»Warum?«, fragte sie kühl.
»Die Engländer waren vereint. Die Franzosen nicht. Hast du noch nie von den Säuberungsaktionen gehört?«
Sie schüttelte den Kopf und kam sich dumm vor.
»Ich weiß ein wenig«, erwiderte sie. »Aber diese Männer, die der Säuberungsaktion zum Opfer fielen, waren Kollaborateure, die Frankreich verraten haben.«
»Natürlich, aber während des Kriegs gehörten viele von ihnen zur Regierung. Man glaubt, dass es in Frankreich ebenso viele Kollaborateure wie Nicht-Kollaborateure gegeben hat.«
»Willst du Felix beschuldigen, ein Kollaborateur gewesen zu sein?«, fragte Maria erregt. Wie kam dieser neugierige kleine Italiener zu so einer Anschuldigung? »Du hast mir erzählt, dass er in der Resistance war.«
»Ich behaupte nicht, dass er ein Kollaborateur war. Weit gefehlt.« Guido klang wütend. »Hör zu, mehr kann ich nicht sagen, ich will dich nur warnen. Er ist nicht der nette Mann, für den du ihn hältst.«
Er legte eine nasse Hand auf ihren Arm. Sie spürte, wie er den Stoff ihres feuchten Mantels auf ihre Haut drückte.
»Bitte, Maria, halt dich von ihm fern. Ich will nicht, dass dir etwas Schlimmes geschieht.«
»Ich bin kein Kind mehr, Guido«, entgegnete sie überheblich, dann schob sie seine Hand von ihrem Arm, marschierte die Straße hinunter und ließ ihn stehen. Sie war wütend. Wie konnte er behaupten, Felix sei ein Kollaborateur gewesen? Woher um alles in der Welt wollte er das wissen? Guido studiert Physik an der University of London, er ist halb so alt wie Felix. Doch obwohl sie seine Anschuldigung entschieden zurückgewiesen hat, ist sie dennoch etwas beunruhigt. Felix weigert sich noch immer, ihr Einzelheiten über seine Vergangenheit zu verraten. Sie hat ihm so viel über Venedig erzählt, davon, wie es war, ohne Vater
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