Verborgene Lust
höher sind als gewöhnlich, selbst wie ein Ausstellungsobjekt vor. Sie hätte sich allerdings keine Sorgen machen müssen. Verglichen mit dem Rest der Besucher, wirkt sie fast zurückhaltend gekleidet.
Valentina bewundert die schillernde Menge. Die Leute sind so ganz anders als in Mailand, wo ein unausgesprochener Zwang zur Klassik herrscht. In Soho scheint alles möglich zu sein. Vermutlich liegt es am Thema der Ausstellung. Die meisten Besucher sehen aus, als würden sie einen Fetischclub statt einer Ausstellungseröffnung besuchen. Tätowierte Männer und Frauen, einige mit rasierten Köpfen, andere mit dichten glänzenden Locken oder roten, blauen und violetten Haaren in hautenger, freizügiger Kleidung in Schwarz, Rot und Weiß mischen sich mit Kunstkritikern im Tweedjackett und Fotografen in Tarnkleidung. Valentina drängt sich durch die Menge und hält nach Thomas Ausschau, kann ihn jedoch nirgends entdecken. In der Zwischenzeit besorgt Isabella ihnen bei einem vorbeikommenden Kellner drei Gläser Champagner.
»Salute!«
Die drei Frauen stoßen an.
»Nun, werfen wir einen Blick auf deine berühmten Fotografien, die meine Nichte so ausdrucksvoll in Szene setzen«, sagt Isabella.
»Hier entlang.« Valentina windet sich durch das Gedränge. Zumindest ist es nicht wie auf den Vernissagen in Mailand, auf denen die Leute sie erkennen und die ganze Zeit an ihr herumzerren. In London ist sie eine von vielen. Sie mag das Gefühl.
In der linken Ecke des Raums hängen ihre sechs Drucke in einer perfekten Anordnung.
»Oh, ich sehe sie! Sieh nur, Tantchen«, kreischt Antonella und schreitet in ihrem knallroten Kleid voran, wobei sie ihren wogenden Busen stolz vor sich herträgt und mehr als nur ein paar bewundernde Blicke auf sich zieht. Es scheint Antonella überhaupt nicht zu stören, dass sie vor einem deutlich erkennbaren Nacktbild ihrer selbst steht.
»Macht es dir etwas aus?«, flüstert Valentina, als sie auf einmal an das Schamgefühl ihrer Freundin denkt.
»Was?«, fragt Antonella zurück.
»Völlig nackt vor diesen ganzen Fremden ausgestellt zu sein?«
»Natürlich nicht. Dir?« Sie deutet auf die Aufnahme aus Venedig, die Valentinas nacktes Spiegelbild auf der Oberfläche eines Kanals zeigt – ihre ersten erotischen Bilder.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortet Valentina und stellt überrascht fest, dass es ihr nicht peinlich ist. Die Bilder der Ausstellung sind insgesamt sehr freizügig, und es finden sich viele Selbstporträts darunter, sodass jede Art von Scham unangebracht scheint.
Valentina erhält einen heftigen Stoß in die Rippen und sieht Antonella fragend an. Ihre Freundin schaut direkt hinter sie. Offensichtlich steht dort jemand, den sie beide kennen. Antonella reißt warnend die Augen auf. Thomas? Valentina dreht sich um, doch zu ihrem Entsetzen steht dort Francesco.
»Guten Abend, Valentina.«
Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Sie kann sich nicht erinnern, Francesco von ihrer Ausstellung erzählt zu haben, aber sie war gestern Abend so betrunken, dass sie es vielleicht doch erwähnt hat.
»Wie geht’s?«, fragt er und sieht sie erwartungsvoll an.
»Gut. Etwas müde«, entgegnet sie teilnahmslos.
Er tritt näher und legt eine Hand auf ihren Po. »Das bin ich auch. Woher das wohl kommt?« Er zwinkert ihr zu.
Sie rückt von ihm ab. Valentina kann nicht fassen, dass er ihr tatsächlich zugezwinkert und an den Hintern gefasst hat. Inmitten der neuen, aufregenden und pulsierenden Londoner Kunstszene wirkt Francesco noch älter, als er tatsächlich ist. In seinem abgetragenen blauen Hemd und dem marineblauen Blazer scheint er einer anderen Welt zu entstammen. Valentina sieht ihn so, wie er ist: Er will sich an ihren Rockschoß hängen. Sie hat zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie letzte Nacht mit ihm geschlafen hat, aber der Impuls, sich von ihm zu entfernen, ist stärker.
»Entschuldige mich«, sagt sie und versucht zu entkommen. Doch Antonella und Isabella haben sich anscheinend in Luft aufgelöst, und in der Nähe steht niemand, den sie kennt.
»Deine Bilder gefallen mir«, sagt Francesco.
»Danke«, erwidert Valentina schlicht.
Er wartet, dass sie mit ihm spricht, sich ihm erklärt, aber sie will nur fort von ihm.
»Ich muss mit jemandem reden«, lügt sie und wendet sich zum Gehen, doch Francesco hält sie am Ellenbogen auf.
»Warte, Valentina«, bittet er.
Widerwillig dreht sie sich zu ihm um.
Er sieht bedrückt aus. »Warum bist du heute Morgen einfach gegangen?
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