Verborgene Lust
ihre Augen geschlossen und ihre Gedanken woanders? Ist es nur ein weiterer Porno? Oder ist sie wirklich eine junge Frau, die ihre Sexualität entdeckt, wie die Videokünstlerin suggeriert?
»Der Beginn der O. setzt ein, als ihr Körper zum Boten ihrer Seele wird. Ist ihre Liebe zu Männern so groß, dass sie sich opfert, oder liegen die Männer ihr aus Liebe zu Füßen? Ist sie göttlich oder diabolisch?«
Der alte Schwarzweißfilm endet abrupt, und das Publikum wird von schnellen Schnitten bombardiert. Es werden Bilder von gefesselten Frauen gezeigt. Dazu fragt die monotone Off-Stimme: »Gefällt es euch? Gefällt euch das? Ist das euer Traum?«
Obwohl es sich um Anitas Werk handelt, gefällt Valentina die Installation und der Einsatz des alten Filmmaterials des Franzosen. Doch die modernen Bilder irritieren sie. Sie steht auf und verlässt den Raum. Sie ist sowieso schon sehr lange hier gewesen. Als sie gerade zurück ins Licht tritt, spürt sie, dass jemand sie sanft am Arm berührt.
»Valentina?«
Der Klang seiner Stimme versetzt ihrem Herzen einen Stich. Es ist erst zwei Tage her, dass sie ihn gesehen hat, aber seitdem ist so viel passiert.
»Thomas«, sagt sie und dreht sich zu ihm um.
Einen Augenblick sehen sie einander nur schweigend in die Augen. Valentina ist kurz davor, ihn zu küssen. Es ist ihr egal, dass sie in einer überfüllten Kunstgalerie stehen. Sie liest die Gefühle in seinen Augen. Sie weiß, dass Thomas sie liebt, genau wie sie ihn.
»Nun, was hältst du von Anitas Videoinstallation?«, fragt er.
»Zuerst hat es mir gefallen, aber das Ende mochte ich nicht.«
»Das Mädchen in dem alten Film erinnert mich an dich«, sagt er.
»Ach ja?« Ihre Stimme verhallt. Sie möchte ihn nur umarmen. »Thomas …« Sie geht einen Schritt auf ihn zu.
»Valentina!«
Valentina hört sie, bevor sie sie sieht – Thomas’ schöne Burlesque-Geliebte, ihre Rivalin, Anita. Valentina versucht, sich zu beruhigen, und überlegt, was sie zu ihr sagen wird, aber bei Anitas Anblick bleibt ihr die Luft weg. Valentina blinzelt. Als sie die Frau das letzte Mal gesehen hat, hatte sie blondgelockte Haare und war in ein rosa Burlesque-Kostüm gekleidet. Heute Abend sieht sie ganz anders aus. Sie trägt ein schwarzweißes Minikleid aus den Sechzigerjahren, das fast aussieht wie das Bridget-Riley-Kleid von Valentinas Mutter, und ihre Beine stecken in schenkelhohen schwarzen Stiefeln. Doch am schlimmsten ist, dass sie eine Perücke trägt. Es ist ein perfekt geschnittener glänzender schwarzer Bob. Kurzum: Die Frau ist eine exakte Kopie von Valentina. Anita hat ihr nicht nur den Mann genommen, sondern auch ihre ureigene Identität.
Maria
Als Maria aufwacht, ist Felix fort. Auf dem kleinen Tisch am Fenster liegen ein paar Münzen und ein Brief.
Mein Liebling, heute Nacht werde ich nicht da sein, aber ich komme morgen wieder. Hier ist etwas Geld. Erkunde Paris.
Kuss, Felix
Maria krabbelt zurück ins Bett, legt den Brief auf ihre nackte Brust und schließt die Augen. Sie denkt an letzte Nacht, an diese unglaublichen Gefühle, als Felix sie mit seiner Zunge liebkost hat. Danach hatten sie sich erneut geliebt, und es war noch fantastischer gewesen als auf dem Boot. Maria hat das Gefühl, schwerelos auf ihren Liebesgefühlen dahinzuschweben.
Der Tag und die folgende Nacht, die sie auf Felix’ Rückkehr wartet, sind die längsten Stunden ihres Lebens. Nachdem Maria immer wieder einnickt und davon träumt, mit Felix zu schlafen, um dann allein im Bett aufzuwachen, beschließt sie, seinem Rat zu folgen und Paris ein bisschen zu erkunden.
Maria wäscht sich an dem kleinen gesprungenen Waschbecken in der Ecke des Zimmers und zieht sich sorgfältig an. Sie trägt das strahlend blaue Kleid mit den rosa Blüten und der kleinen Bolerojacke, die sie aus dem Stoff ihrer Mutter genäht hat. Sie denkt an ihre Mamas. Was werden sie dazu sagen, dass sie mit Felix in Paris ist? Pina wird es missbilligen. Sie wird sagen, dass Maria zu jung und unbekümmert sei. Und Belle? Maria hat das Gefühl, dass ihre Mutter vielleicht Verständnis für ihr Handeln haben wird, weil sie selbst alle Vorsicht in den Wind geschlagen hatte, als sie sich in Santos Devine verliebte.
Maria geht über das Kopfsteinpflaster von Saint-Germain-des-Prés, das glatt und rutschig von all jenen ist, die vor ihr darüber gelaufen sind: von all den jungen verliebten Idealisten. Sie fühlt sich wie eine Blume, die in der Sonne erblüht. Felix hat ihre Schönheit
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