Verborgene Lust
Leonardo über Sex und Erotik spricht. Dann hat sie immer das Gefühl, dass sie noch viel von ihm lernen kann.
»Ich glaube, dass Erotik in dem Moment entstanden ist, als dem Mensch bewusst wurde, dass er sterblich ist. Sex und Tod stellen beide einen heftigen Bruch im üblichen Ablauf der Dinge dar. Man hat den Höhepunkt auch als ›kleinen Tod‹ bezeichnet. Sind wir uns unserer Sterblichkeit bewusst, kann Erotik jedoch auch eine Würdigung des Lebens bedeuten.«
»Bei dir klingt das so erhaben«, erwidert Valentina. »Aber andere Leute sagen, wir seien verdorben, unfähig, uns zu binden, lüstern …«
»Das ist ein Problem.« Leonardo wirkt ernst. »Moralische Maßstäbe verderben den Sex. Erotik sollte nichts mit Moral zu tun haben.«
Valentina fällt ein, dass ihre Mutter früher solche Sachen gesagt hat. Vielleicht lebt sie nach diesem Prinzip. Vielleicht hat Valentina es ganz einfach übernommen.
Sie blickt aus dem Fenster des Cafés, beobachtet die Menschen auf dem Bürgersteig und denkt über Leonardos Vorschlag nach. Könnte das eine Möglichkeit sein, Thomas ihre Liebe zu beweisen? Könnte sie Anita und Thomas verführen? Das hieße, dass sie ihn Anita nicht wegnehmen würde? Es klingt wie eine absolut verrückte Idee, doch ihre freiheitsliebende Seele fühlt sich davon angesprochen. Sie fand Anita vom ersten Augenblick an attraktiv. Es hat Valentina zwar gestört, dass sie sich wie ihre Mutter zurechtgemacht hat, als blondes, kokettes Wesen hat sie ihr aber sehr wohl gefallen. Natürlich will Valentina eigentlich nur mit Thomas zusammen sein, aber wenn Anita dafür offen ist, könnte das ein Weg sein, dieses Ziel zu erreichen. Es wäre eine starke Botschaft für Thomas. Letztes Jahr hatte er ihr gezeigt, wie sehr er ihr vertraute und sie liebte, indem er verschiedene Szenarios in Leonardos Club für sie inszeniert hatte. Leonardo, Thomas und Valentina waren zusammen im Darkroom gewesen, dem Raum ihrer ultimativen sexuellen Fantasien. Thomas hatte alles dafür getan, Valentina zu zeigen, dass er sie so liebte, wie sie ist, und sie nicht verändern will. Kann sie nicht dasselbe für ihn tun? Sie weiß, dass Leonardo recht hat. Thomas hat ihr von einer Fantasie mit ihm, ihr sowie einer weiteren Frau erzählt. Als Valentina mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie der Idee offen gegenüber gestanden. Ihr Herzschlag beschleunigt sich. Kann sie einen solchen Dreier irgendwie inszenieren? Die Vorstellung ist zugleich aufregend und beängstigend.
»He«, sagt Leonardo und berührt sanft ihre Hand. »Ich muss gehen.«
Sie schmollt. »Es kommt mir vor, als wärst du gerade erst gekommen.«
»Ich konnte nur eine Nacht wegbleiben.«
Valentina drückt fest seine Hand und lässt sie dann los. »Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist.«
Nun ist Valentina wieder allein. Während die Sonne auf ihre Haut scheint, läuft sie an den Museen in der Old Brompton Street vorbei und versucht ihre Gedanken zu ordnen. Hat Leonardo recht mit der Idee von dem Dreier? Und selbst wenn, wie um alles in der Welt soll sie das machen? Seit er gestern Abend verschwunden ist, hat sie nichts mehr von Thomas gehört. Sie hat keine Lust, ihn anzurufen, nachdem er sie in der Ausstellung hat stehen lassen. Valentina läuft weiter, als warte am Ende des Wegs die Antwort. Sie läuft bis nach Knightsbridge und am Hyde Park vorbei. Morgen soll sie nach Mailand zurückkehren. Das bedeutet, dass heute Abend ihre letzte Chance ist. Natürlich ist da auch noch die Sache mit ihrem Vater.
Sie bleibt stehen und blickt sich um. Wo ist sie? Sie hat keine Ahnung. Hinter ihr befindet sich der Hyde Park, vor ihr erstreckt sich ein weiterer Park. Die Straße ist stark befahren, die Autos rasen an ihr vorbei. Sie holt London A-Z heraus und blickt auf den U-Bahn-Plan auf der Rückseite. Green Park liegt an der Jubilee Line – genau wie die Station Finchley Road, die sich in der Nähe vom Haus ihres Vaters befindet. Es erscheint ihr als Wink des Schicksals, dass sie ausgerechnet vor dieser U-Bahn-Station steht. Vielleicht muss sie, um herauszufinden, was sie mit Thomas machen soll, erst erfahren, wer sie wirklich ist? Dazu muss sie sich ihrer Angst stellen und ihren Vater besuchen. Wenn sie das nicht tut, wird sie es bereuen. Sie hat den Rest des Tages Zeit. Antonella und Mikhail sehen sich die Stadt an, und Isabella ist bei der Arbeit. Nachdem Valentina alle Werke verkauft hat, hat sie auch keinen Grund mehr, in die Galerie zu gehen.
Ihr Telefon
Weitere Kostenlose Bücher