Verborgene Lust
brummt. Sie nimmt es aus der Tasche und betet, dass es eine Nachricht von Thomas ist, doch sie stammt von einer unbekannten Nummer:
Hallo, Valentina. Tut mir leid wegen gestern. Ich war betrunken ;-) Hast du Lust, heute Abend zu mir auf eine Party zu kommen? Thomas hat mir erzählt, dass es dein letzter Abend in London ist. Bitte komm! Sag Bescheid, dann schicke ich dir meine Adresse.
Liebe Grüße, Anita
Obwohl die Nachricht von Anita stammt, hat sie das Gefühl, dass Thomas indirekt mit ihr spricht. Anita hat geschrieben, Thomas habe ihr erzählt, es sei Valentinas letzter Abend in London. Woher weiß er das? Er will sie wiedersehen. Wenn sie ohne Thomas’ Liebe nach Mailand zurückkehrt, wann wird sie ihn dann je wiedersehen? Sie schafft es nicht, ihn anzuflehen, zu ihr zurückzukehren. Also muss sie ihn zurückgewinnen, auch wenn das bedeutet, Anita wehzutun.
Als Valentina in die U-Bahn-Station Green Park schreitet, ist sie entschlossen, endlich ihrem Vater gegenüberzutreten und ihren Mann nicht Anita zu überlassen. Jetzt ist Valentina dran.
Maria
Maria und Felix beginnen ihren berauschenden Abend in einem kleinen Restaurant in Saint-Germain-des-Prés. Sie essen so gut, wie Maria seit Jahren nicht mehr gegessen hat – das letzte Mal vor dem Krieg, als sie noch ein Mädchen war. Endiviensalat mit Riesengarnelen, Pilzcremesuppe, gefolgt von Knoblauchschnecken und frischem Baguette. Dazu gibt es einen vollen Rotwein. Woher haben die Franzosen all das Essen, wenn die Lebensmittel in England noch immer streng rationiert sind? Felix erklärt Maria, dass das mit dem Marshallplan der Amerikaner zu tun hat. Vor nicht einmal einem Jahr haben die Einwohner von Paris noch Hunger gelitten. An Fleisch gab es damals nur Kaninchen. Während sie essen, begreift Maria langsam, wie klug Felix ist. Er erzählt ihr alles über die aktuelle Politik in Frankreich: dass die Amerikaner nach der Berlinblockade, die im Frühsommer begonnen hatte, fürchteten, Frankreich werde von den Kommunisten übernommen. So haben sie nicht nur begonnen, Geld und amerikanische Güter ins Land zu pumpen, auch die Amerikaner selbst kommen in Scharen.
»Um das kultivierte Pariser Leben kennenzulernen«, sagt Felix herablassend, während er eine zarte Schnecke aus ihrem Haus holt und sich in den Mund steckt. »Ihre Politiker wollen uns das amerikanische Leben beibringen. Was es heißt, ein guter Arbeiter zu sein.«
»Glaubst du, dass es einen weiteren Krieg geben wird?«, fragt Maria. »Die Frauen in der Schlange beim Fleischer denken das. Und Guido. Aber der meint, wir müssten keine Angst vor den Russen haben.«
»Ist Guido ein guter Freund von dir?«
»Nein, überhaupt nicht.« Sie errötet und fragt sich, warum sie an den Italiener denkt. In den letzten zwei Wochen war sie so von Felix und ihrem Liebesspiel verzaubert, dass sie kaum noch an London und auch nicht an Venedig gedacht hat. »Aber er scheint eine Menge zu wissen«, erklärt sie.
»Er ist nur ein Junge«, sagt Felix mit schneidender Stimme. »Er hat keine Ahnung, was wirklich in der Welt vor sich geht.« Felix taucht ein Stück Brot in die Knoblauchbutter der Schnecken. »Es gibt keinen Krieg. Das Risiko gehen weder Russen noch Amerikaner ein.«
»Aber Berlin ist von Stalin blockiert. Ist das nicht schon der Anfang?«
»Wenn Stalin einen Krieg wollte, hätte er ihn schon längst begonnen.« Felix schenkt ihnen noch etwas Rotwein nach. »Reden wir nicht mehr vom Krieg«, sagt er. »Er zerstört alles Schöne. Und ich will, dass dieser Abend wundervoll wird.«
Sie trinkt einen Schluck Wein, und sein süßes Beerenaroma stärkt sie und bewirkt, dass sie sich noch wohler mit ihrem erotischen Schmuck fühlt.
»Zwei Dinge sind gut daran, dass die Amerikaner hier sind«, fährt Felix fort und füttert sie mit einer Schnecke. »Das eine ist ihre Jazzmusik, und das zweite ist ihr Interesse an Filmen – eine Tatsache, von der ich profitiere.«
»An was für einem Film arbeitest du momentan?«, fragt Maria schüchtern.
»Da mein Leben derzeit voller Liebe ist, ist es natürlich eine Liebesgeschichte, Maria.« Er grinst.
Nach dem Essen besuchen sie eine Bar in der Nähe ihres Hotels. Felix führt sie durch das verrauchte Gedränge. Die ganze Zeit über dreht sich die kleine goldene Kugel. Sie hält die Luft an und hat das Gefühl, wie auf rohen Eiern zu gehen. In der Bar riecht es nach starkem Tabak, billigem Wein und ungewaschenen Menschen. Dennoch hat der Laden etwas
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