Verborgene Macht
viele Gefühle erwachten zum Leben. Sie konnte ihnen keinen Einhalt gebieten und sie wollte es auch nicht. Sie nahm alles mit wachen Sinnen wahr: Die Wärme von Ranjits Hand und wie ihre Nerven mit einem scharfen Kribbeln darauf reagierten; wie die Musik Besitz von ihrem Gehirn und ihren Gefühlen ergriff, wie sie jedes einzelne Instrument deutlich in ihrem Kopf hören konnte und wie sie trotzdem als Ganzes harmonierten. Sie konnte die Wärme und den Duft des Publikums schmecken, das Ein- und Ausatmen der Menschen, die manchmal ehrfürchtig den Atem anhielten, bis die Musik sie wieder losließ und sie erneut Luft holen konnten. Genauso wie die Musik konnte sie die Menschen hören: ihre Atmung, das Rascheln von Seide und das gelegentliche Quietschen eines Lederschuhs, das Knarren, wenn jemand sich auf einem Stuhl bewegte; das Kratzen eines Bogens über Saiten, das fedrige Wispern, wenn ein Notenblatt umgedreht wurde.
Und natürlich fühlte sie es, wenn man sie beobachtete.
Ganz plötzlich wurde ihr bewusst, dass jemand sie anstarrte. Der Blick verursachte ein Prickeln auf ihrer Stirn, und zum ersten Mal vergaß sie das Orchester, vergaß den schwebenden Donner der Musik. Als sie ihrerseits den Blick hob, wusste sie genau, in welche Richtung sie blicken musste, und fand die Person, die sie beobachtete, sofort.
Ihr stockte der Atem. Auf der anderen Seite des Saals, in der Loge ihrer eigenen gegenüber, saßen vier Mädchen. Sie kannte sie alle: Drei gingen in die Oberstufe der Akademie, allesamt Auserwählte. Die hochnäsige Sara war eine von ihnen; die Namen der beiden Mädchen links
und rechts von ihr kannte Cassie nicht, sie wusste nur, dass sie noch nie freundlich zu ihr gewesen waren.
Das vierte Gesicht kannte sie dagegen nur allzu gut. Blass und liebreizend, so kalt wie die Arktis, aber von strahlender Schönheit. Eine Eiskönigin, eine Hitchcock-Blondine. Perfekt in jeder Hinsicht - bis auf die Narbe, die sich über ihre linke Wange zog.
Cassie spürte, dass Ranjits Finger sich fragend um ihre Hand schlossen, aber sie konnte ihm nicht antworten. Der Schock saß ihr zu tief in den Knochen. Erst als Applaus aufbrandete und die Pause ankündigte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Der plötzliche Lärm drang durch ihre Trance des Grauens hindurch und sie drehte sich verzweifelt zu Ranjit um.
»Katerina. Katerina ist hier!«
Ranjit runzelte die Stirn, stellte ihr jedoch keine Fragen. Er folgte ihrem Blick zur gegenüberliegenden Loge. Als Katerina eine zierliche Hand zu einem spöttischen kleinen Winken hob, reagierte er nicht, aber Cassie sah ein vertrautes Feuer in seinen Augen aufflackern. Es war ein dunkles Glühen, das sie schon früher gesehen hatte, wie geschmolzene Lava. Beim ersten Mal war es beängstigend gewesen. Diesmal war es auf seltsame Weise beruhigend.
»Es tut mir wirklich leid, Cassie.« Ranjits Stimme war kühl und tödlich. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie in New York ist.«
»Es spielt keine Rolle. Wirklich.« Ihr Herz hämmerte und strafte ihre Worte Lügen. Katerina war in New York. Cassie musste sofort an Jake denken. Er hatte rund um den Globus nach ihr gesucht. Was würde er tun, wenn er herausfand, dass sie hier war, in seiner Heimatstadt? In seiner Reichweite ... Ranjits Stimme unterbrach ihre Gedanken.
»Ich hatte für die Pause in der VIP-Lounge Champagner bestellt«, sagte er. »Aber wenn du lieber hierbleiben möchtest...«
Cassie schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde mir von ihr nicht unseren wunderschönen Abend verderben lassen. Wir werden ihnen aus dem Weg gehen.«
Er drückte ihre Hand. »Jedenfalls werden wir es versuchen. Komm.«
Eigentlich hätte es in der Menschenmenge, die die Treppe hinunterströmte, kein Problem sein dürfen, Katerina und ihre Freundinnen zu meiden. Aber Katerina war offenkundig dazu entschlossen, ihnen über den Weg zu laufen. Ranjit hatte in der VIP-Lounge gerade zwei geeiste Champagnerflöten gefüllt, als das blonde Mädchen aus der Menge gut betuchter Gäste auftauchte. Ihre Freundinnen flankierten sie wie prätorianische Wachen.
»Na so was, Bim-Bam Bell«, meinte sie gedehnt und unterzog Cassie einer abschätzigen Musterung. »Wenn das nicht unsere Stipendiatin ist.«
»Das reicht, Katerina.« Ranjits Stimme war leise und beherrscht, aber der drohende Unterton war nicht zu überhören.
»Ganz deiner Meinung. Es reicht. Dass diese erbärmliche Kreatur an der Akademie verbleibt, während ich der Schule verwiesen wurde, ist
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