Verborgene Macht
sie standen wie angewurzelt an Ort und Stelle und schienen nicht bereit, es mit Cassie aufzunehmen. Sie hatten Angst vor ihr.
Womit sie vollkommen recht haben. Wir hätten sie weiter werfen sollen! Halte sie fest!
Cassie musterte Sara. Der Anblick des Mädchens, das sich abmühte, wieder aufzustehen, war außerordentlich befriedigend. Ja, Estelle hatte recht. Halt sie fest. Sie musste sie festhalten. Einfach so. An der Kehle. »Cassie, hör auf!«
Der liebe Junge. Aber so lästig! Hör nicht auf ihn.
Sie schenkte Ranjits Rufen keine Beachtung, spannte ihren geistigen Griff um Saras Hals und drückte zu. Das Mädchen lief purpurfarben an, rang nach Luft, trat heftig um sich und riss an der eigenen Kehle, versuchte den unsichtbaren Griff, der sie umfangen hielt, abzuwehren. Seltsame Geräusche waren zu hören. Würgen, Keuchen, erstickte Laute.
»CASSIE!«
Sie spürte, wie sich Arme um ihre Taille schlossen, und plötzlich kämpfte jemand mit ihr, versuchte, sie wegzuziehen. Sie holte Luft, um ein verächtliches Lachen auszustoßen, und hob einen Arm, um ihren Widersacher abzuschütteln. Aber die Hand, die sie gepackt hielt, war genauso stark wie ihre.
Ranjit!
Der Schock seiner Berührung brachte sie wieder zur Besinnung, und sie begriff, wo sie war. Wer sie war.
Was sie tat.
»HÖR AUF DAMIT!« Ranjits Knurren war nicht menschlich, katzenähnlich, aber sie verstand es deutlich.
Sie hatte auch schon aufgehört. In der Stille der inzwischen verlassenen VIP-Lounge, beobachtet nur von Ungeheuern, wie sie selbst eines war, starrte Cassie auf Saras schlaffe Gestalt, die schluchzend auf dem Boden lag.
KAPITEL 11
Oh ja, man konnte sehr wohl in Jimmy Choos rennen. Richtig, richtig schnell. Cassie kämpfte sich rücksichtslos durch die Menschenmenge im Foyer, durch die verwirrten Konzertbesucher, die nicht in der Lounge gewesen waren und mitbekommen hatten, was geschehen war. Draußen traf die kalte Luft sie wie eine Ohrfeige, als sie über die 57th Street und die Central Park South in die dunkle Sicherheit des Parks selbst stürzte.
Sie rannte weiter, bis die hohen Absätze sie zwar nicht schmerzten, aber sie verärgerten. Wieder Ärger. Nein. Sie durfte nicht wütend werden. Stolpernd blieb sie stehen, streifte die Schuhe ab und rannte schwer atmend, die Riemchen der Stilettos um ihre Finger gewickelt, barfuß weiter.
Etwas Weiches, Kaltes traf sie ins Gesicht. Und noch einmal. Verunsichert hielt sie inne und wartete einige Sekunden ab. Als sie über ihre Wange strich, verwandelte die Kälte sich in Feuchtigkeit.
Schnee. Die Flocken fielen immer schneller und wurden immer dichter, verschwanden in der dunklen Oase des Parks. Im Hintergrund leuchteten die Lichter der Stadt. Ihre nackten Füße waren eiskalt. Ihr war eiskalt. Sie erkannte nur noch vereinzelte Lichtpfützen auf langsam weiß werdenden Grasflecken und die unheilverkündenden Umrisse von Bäumen. Zitternd vor Angst, schlang sie die Arme um den Leib. Oh, Gott!
Eine dunkle Gestalt trat hinter sie und sie schrie ängstlich auf.
»Cassie.«
Seine Stimme war leise, die animalische Wildheit war verschwunden. Mit einem sowohl verzweifelten als auch erleichterten Schluchzen ließ sie sich von Ranjit in den Arm nehmen.
»Kommm, Cassie. Lass uns gehen.«
»Ich weiß nicht, was es ist. Ich habe noch nie davon gehört.«
Sir Alric Dark hatte ihnen den Rücken zugewandt. Er starrte schon seit mehreren Minuten durch die Glaswände seines Penthouses auf die glitzernden Lichter von Manhattan und die Schwärze des Central Parks.
Cassie schauderte. Sie konnte kaum glauben, dass sie kopflos in diese alles verschlingende Dunkelheit hineingerannt war. Der Hunger wuchs wieder; sie konnte es spüren. Er nagte in ihrem Innern, seit sie in blinder Panik aus der Carnegie Hall gestürzt war. Der Geist war wach und er war ausgehungert. Und das war noch etwas, was sie nicht brauchen konnte. Denn sie war genau wie Ranjit davon überzeugt gewesen, dass Sir Alric den Vorfall in der Carnegie Hall würde erklären können.
Doch dieses Glück hatte sie nicht.
»Sie sagen, Sie hätten Sara hochgehoben?«
»Nicht - nicht mit Körperkraft.« Ihre Stimme zitterte und sie räusperte sich. »Aber ja, ich habe sie hochgehoben. Mit irgendeiner anderen Art von Kraft. Sie war außerhalb von mir, fühlte sich aber so an, als könnte ich sie kontrollieren.«
»Das ist verwirrend. Und es macht mir große Sorgen.«
»Es macht Ihnen Sorgen?« Sie versuchte zu lachen.
»Sir Alric«,
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