Verborgene Macht
hatte ich noch nie. Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich richtig bei dir für die denkwürdige Erfahrung zu bedanken!« Er lächelte.
Cassie wusste, dass er lediglich versuchte, sie aufzumuntern, doch sie konnte sein Grinsen nicht erwidern. »Deswegen zitiert mich der Ältestenrat zu sich, nicht wahr? Wegen der Carnegie Hall?«
Er seufzte und nickte ernst. »Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte. Cassie...« Ranjit holte tief Luft, rollte das Pergament auf und las es durch. »Du solltest wissen, dass das sehr, sehr selten vorkommt. Die Ältesten berufen so gut wie nie eine Versammlung ein, ganz zu schweigen davon, dass sie einen Schüler dazu einladen. Der Rat setzt sich aus den wichtigsten Auserwählten zusammen, und ihre eigentlichen Jobs lassen ihnen nicht viel Zeit, um Ihresgleichen zu beaufsichtigen. Außerdem würde das Leben für die meisten von ihnen sehr, äh, schwierig werden, sollte ihr Geheimnis auffliegen.«
Cassie rümpfte die Nase. »Du meinst, ich könnte einige der Ältesten kennen?«
»Oh, davon bin ich überzeugt. Es sei denn, du hast noch nie im Leben die Nachrichten gesehen.«
»Jetzt habe ich definitiv Angst.« Sie rieb sich die Schläfen. »Was genau wollen sie von mir?«
Er starrte auf das Bücherregal hinter ihr. »Herausfinden, was geschehen ist, nehme ich an.«
»Aber ich weiß nicht, was geschehen ist, Ranjit. Und wichtiger noch, Sir Alric weiß es auch nicht. Was soll ich ihnen sagen?«
»Keine Ahnung.« Ranjit drückte ihre Finger, sah ihr aber immer noch nicht richtig in die Augen. »Es wird bestimmt alles gut werden, Cassie. Sie sind nicht alle schreckliche Despoten.«
»Nicht alle«, wiederholte sie trocken.
»Es wird alles gut werden«, versicherte er ihr noch einmal. »Ich werde dort sein. Ich begleite dich.«
»Das würdest du für mich tun?« Ihre Miene hellte sich sofort auf. »Das kannst du tun?«
»Es gibt eine Menge Dinge, die ich tun kann und von denen du nichts weißt.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Du hast ein Recht auf Beistand. Damit wäre das also geklärt. Ich werde dich nicht allein hingehen lassen.« Er klang beinahe zu entschlossen, als versuche er, außer ihr noch jemanden zu überzeugen. Sie konnte nicht anders, ihr Herz flog ihm zu. Sie stand auf, beugte sich über den Bücherstapel und umarmte Ranjit. Sein Versprechen hatte ihr unerwartete Tränen in die Augen getrieben, und sie wollte nicht, dass er sie sah.
»Danke, Ranjit.«
»Keine Ursache«, flüsterte er. Dann spürte sie, wie sie den Boden unter den Füßen verlor, und begriff, dass er sie hochgehoben hatte, als würde sie rein gar nichts wiegen. Gleich darauf setzte er sie auf seiner Seite des Tischs wieder ab, drückte sie fest an sich und küsste sie. Es war kein drängender Kuss wie in der vergangenen Nacht, sondern ein warmer, tröstender Kuss. Nach einem Moment ließ er sie wieder los. Er sah erleichtert aus.
»Wirst du auch bestimmt dort sein?«, fragte sie lächelnd, das Gesicht an seiner Brust vergraben.
»Ich hab’s dir doch gesagt. Ich werde dich nicht allein lassen.«
Nein, nein, er darf uns nicht allein lassen!
Beim Klang der rauen Stimme zuckte Cassie zusammen. Erschrocken wich sie zurück.
Bist du dir sicher, dass er uns nicht allein lassen wird? Vertrauen wir ihm?
»Natürlich tun wir das!«, zischte sie.
»Cassie?« Ranjit blickte stirnrunzelnd auf sie herab. »Was ist los?«
»Tut mir leid. Nichts«, erwiderte sie hastig. Dann blickte sie zu ihm auf und sah die Angst in seinen Augen.
Können wir darauf vertrauen, dass er uns nicht verlassen wird?
In dem Versuch Estelle loszuwerden, schüttelte Cassie den Kopf, zwang sich zu einem leisen Lachen, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn schnell. »Ich sollte langsam gehen.«
»Mach dir keine Sorgen, Cassie. Okay? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Gut.« Sie lächelte ein strahlendes, unechtes Lächeln. »Es ist schließlich nur der Ältestenrat, richtig?«
Ranjit lachte leise. »Richtig. Bis bald.«
Sie drückte ein letztes Mal seine Hand, dann eilte sie davon, bevor Estelle noch mehr sagen konnte. Ranjit hatte ihr versprochen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, und sie glaubte ihm. Sie verließ sich auf sein Wort. Sie vertraute ihm tatsächlich.
Oder nicht?
Als Cassie am nächsten Regal vorbei war, entdeckte sie eine vertraute Gestalt, die mit einem Stapel Akten unterm Arm zur Tür lief. Jake. Beinahe hätte sie nach ihm gerufen, weil sie ihn dafür zur
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