Verborgene Muster
Knoten hinein,
die wir in der Ausbildung gelernt hatten. Das veranlasste mich, ihm die Bedeutung des Gordischen
Knotens zu erklären. Er fuchtelte mit einem kleinen Kreuzknoten vor mir herum.
»Gordischer Knoten, Kreuzknoten. Gordon hat schon sein liebes Kreuz mit den Knoten.«
Das war wieder etwas, worüber wir lachen konnten.
Außerdem spielten wir Nullen und Kreuze, kratzten die Spiele mit den Fingernägeln in die
bröckeligen Wände unserer Zelle. Reeve zeigte mir einen Trick, mit dem man zumindest ein
Unentschieden erreichen konnte. Davor hatten wir bestimmt an die dreihundert Spiele gemacht, von
denen Reeve zwei Drittel gewonnen hatte. Der Trick war ganz einfach.
»Du setzt dein erstes O links oben in die Ecke und das zweite diagonal dazu. Das ist eine
unschlagbare Position.« »Und was ist, wenn der Gegner sein erstes X diagonal zu diesem ersten O
setzt?«
»Dann kannst du immer noch gewinnen, wenn du auf die anderen Ecken setzt.«
Reeve schien das aufzuheitern. Er tanzte durch die Zelle, dann starrte er mich plötzlich mit
einem anzüglichen Grinsen an. »Du bist wie der Bruder, den ich nie hatte, John.« Im gleichen
Augenblick nahm er meine Hand, ritzte mit dem Fingernagel in die Haut der Handfläche und machte
das Gleiche bei sich. Wir legten die Hände gegeneinander und rieben das Blut hin und her.
»Blutsbrüder«, sagte Gordon lächelnd.
Ich lächelte zurück. Mir war klar, dass er viel zu abhängig von mir geworden war und nicht
zurecht kommen würde, wenn sie uns trennen würden.
Dann kniete er sich vor mich hin und drückte mich noch einmal an sich.
Gordon wurde immer rastloser. Er machte jeden Tag fünfzig Liegestütze, was angesichts unserer
kargen Kost phänomenal war. Und er summte kleine Melodien vor sich hin. Die positive Wirkung, die
meine Gesellschaft zunächst auf ihn hatte, schien nachzulassen. Er ließ sich wieder treiben. Also
fing ich an, ihm Geschichten zu erzählen.
Zuerst redete ich über meine Kindheit und über die Tricks meines Vaters, dann begann ich, ihm
richtige Geschichten zu erzählen. Ich gab ihm die Handlung meiner Lieblingsbücher wieder.
Schließlich war es an der Zeit, ihm die Geschichte von Raskolnikow zu erzählen, die moralischste
Geschichte überhaupt, Schuld und Sühne. Er hörte gebannt zu, und ich versuchte, es so lange wie
möglich auszuspinnen. Ich erfand einige Teile, dachte mir ganze Dialoge und Figuren aus. Und als
ich fertig war, sagte er. »Erzähl es mir noch einmal.«
Das tat ich.
»Und war das alles unvermeidlich, John?« Reeve hockte auf den Fersen und strich mit den Fingern
über den Zellenboden. Ich lag auf der Matratze.
»Ja«, sagte ich. »Ich glaube, das war es. Jedenfalls ist es so geschrieben. Das Ende des Buches
steht schon fest, noch bevor es so richtig angefangen hat.«
»Ja, das Gefühl hatte ich auch.«
Es entstand eine längere Pause, dann räusperte er sich.
»Was ist deine Vorstellung von Gott, John? Das würde ich wirklich gern wissen.«
Also erklärte ich es ihm. Ich illustrierte meine abwegigen Vorstellungen mit kleinen Geschichten
aus der Bibel. Gordon Reeve legte sich hin und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er
konzentrierte sich wie verrückt.
»Ich kann das alles nicht glauben«, sagte er schließlich, als ich heftig schlucken musste. »Ich
wünschte, ich könnte, aber ich kann es nicht. Ich finde, Raskolnikow hätte sich beruhigen und
seine Freiheit genießen sollen. Er hätte sich eine Browning besorgen und alle umnieten
sollen.«
Ich dachte über diese Bemerkung nach. Es schien ein bisschen was dafür zu sprechen, aber eine
große Menge auch dagegen. Reeve hing irgendwie in der Luft; er glaubte zwar, keinen Glauben zu
haben, was aber nicht unbedingt bedeutete, dass ihm die Fähigkeit zu glauben fehlte.
Was soll dieser ganze Scheiß?
Pssst.
Und zwischen den Spielen und dem Geschichtenerzählen legte er mir immer wieder die Hand in den
Nacken.
»John, wir sind doch Freunde, oder? Ich meine richtig enge Freunde? Ich hab noch nie einen
richtigen Freund gehabt.« Sein Atem war heiß trotz der Kalte in der Zelle. »Aber wir sind
Freunde, nicht wahr? Ich hab dir doch beigebracht, wie man bei Nullen und Kreuzen gewinnt, oder
etwa nicht?« Seine Augen waren nicht länger menschlich. Es waren die eines Wolfs. Ich hatte es
kommen sehen, aber nichts dagegen tun können.
Bis jetzt nicht. Aber jetzt sah ich alles mit den klaren, halluzinogenen Augen eines Menschen,
der alles gesehen hat, was es zu
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