Verborgene Muster
schließlich von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Was würde er sagen? Fragen und Vermutungen begannen ihn
mehr und mehr zu beunruhigen, ängstigten ihn schließlich fast so sehr wie das Wissen, dass Sammy
in den Händen von Reeve ein langes qualvolles Ende bevorstehen würde. Doch sie war ihm wichtiger
als die Erinnerung, sie war die Zukunft. Und so ging er entschlossenen Schrittes und ohne Angst
zu zeigen auf die gotische Fassade der Bibliothek zu.
Vor dem Eingang verkündete ein Zeitungsverkäufer, dessen Mantel sich wie feuchtes Seidenpapier um
ihn wickelte, lautstark die neuesten Nachrichten, heute mal nichts über den Würger, sondern über
irgendein Schiffsunglück. Nachrichten waren kurzlebig. Rebus machte einen Bogen um den Mann und
sah sich dessen Gesicht genau an. Zugleich fiel ihm auf, dass seine Schuhe mal wieder voll Wasser
gelaufen waren, dann trat er durch die Pendeltür aus Eiche.
Am Empfangstisch saß ein Wachmann und blätterte in einer Zeitung. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit
mit Gordon Reeve. Rebus atmete tief durch und versuchte, sein Zittern unter Kontrolle zu
bekommen.
»Wir schließen gerade«, sagte der Wachmann hinter seiner Zeitung.
»Ja, ich weiß.« Dem Wachmann schien der Tonfall von Rebus' Stimme nicht zu gefallen; es war eine
harte, eisige Stimme, die er wie eine Waffe einsetzte. »Mein Name ist Rebus. Detective Sergeant
Rebus. Ich suche einen Mann namens Reeve, der hier arbeitet. Ist er da?«
Rebus hoffte, dass er sich gelassen anhörte. Er war nämlich alles andere als gelassen. Der
Wachmann ließ seine Zeitung auf dem Stuhl liegen und lehnte sich zu Rebus herüber. Er betrachtete
ihn, als ob er ihm nicht traute. Das war gut, genau so wollte es Rebus.
»Kann ich Ihren Ausweis sehen?«
Unbeholfen, da seine Finger ihm nicht richtig gehorchen wollten, fischte Rebus seinen Ausweis aus
der Brieftasche. Der Wachmann starrte eine Zeit lang darauf, dann sah er wieder Rebus an.
»Reeve haben Sie gesagt?« Er gab Rebus den Ausweis zurück und holteeine Namensliste hervor, die
an einem Klemmbrett aus gelbem Plastik hing. »Reeve, Reeve, Reeve. Nein, hier arbeitet kein
Reeve.«
»Sind Sie sicher? Er ist vielleicht kein Bibliothekar. Er könnte auch beim Reinigungstrupp sein
oder so.«
»Nein, auf meiner Liste stehen alle drauf, vom Direktor bis zum Pförtner. Sehen Sie, da ist mein
Name. Simpson. Jeder steht auf dieser Liste. Er wäre auf dieser Liste, wenn er hier arbeitete.
Sie müssen sich irren.«
Nach und nach verließ das Personal unter lautem »bis morgen« und »gute Nacht« das Gebäude. Wenn
er sich nicht beeilte, war Reeve fort. Falls er überhaupt noch hier arbeitete. Es war ein so
dünner Strohhalm, so eine schwache Hoffnung, dass Rebus schon wieder in Panik geriet.
»Kann ich diese Liste mal sehen?« Er streckte eine Hand aus und legte alle Autorität, die er
aufbringen konnte, in seinen Blick. Der Wachmann zögerte, dann gab er ihm die Liste. Rebus begann
sie hektisch auf Anagramme oder sonstige Anhaltspunkte durchzusehen.
Er brauchte nicht lange zu suchen.
»Ian Knott«, flüsterte er vor sich hin. Ian Knott. Gordischer Knoten, Kreuzknoten. Gordon hat
schon sein liebes Kreuz mit den Knoten. Er fragte sich, ob Gordon Reeve ihn riechen konnte. Er
konnte Reeve riechen. Er war nur wenige Meter von ihm entfernt, vielleicht nur eine Treppe. Mehr
nicht.
»Wo arbeitet Ian Knott?«
»Mister Knott? Er arbeitet Teilzeit in der Kinderabteilung. Der netteste Mann, den man sich
vorstellen kann. Warum? Was hat er getan?«
»Ist er heute da?«
»Ich glaube ja. Ich glaube, er kommt jeden Nachmittag die letzten beiden Stunden. Was soll das
alles?«
»In der Kinderabteilung, haben Sie gesagt? Das ist im Untergeschoss, oder?«
»Ganz recht.« Der Wachmann war jetzt ganz außer sich. Er merkte, wenn etwas nicht stimmte. »Ich
ruf nur schnell unten an und sag ihm...«
Rebus lehnte sich so weit über den Tisch, dass seine Nase die des Wachmanns berührte. »Du tust
gar nichts, verstanden? Wenn du es wagst, den da unten anzurufen, dann komme ich wieder rauf und
trete dir dieses Telefon so tief in den Arsch, dass du mit dir selber telefonieren kannst. Ist
das klar?«
Der Wachmann nickte langsam und nachdenklich, doch Rebus hatte ihm bereits den Rücken gekehrt und
lief auf die blank geputzte Treppe zu.
In der Bibliothek roch es nach alten Büchern, nach Feuchtigkeit, Messing und Bohnerwachs. Für
Rebus' Nase war es der Geruch von Konfrontation, ein Geruch, der
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