Verborgene Muster
wo ein schäbig gekleideter Mann vorbeischlurfte und sich gerade
bückte, um einen Zigarettenstummel aufzuheben. Mein Gott, er brauchte dringend eine Zigarette. Er
sah sich nach einem Aschenbecher um, in dem vielleicht ein paar wieder verwendbare Kippen
lagen.
»Auf die Idee bin ich nie gekommen.«
»Wie solltest du auch? Bis gestern wussten wir ja nicht, dass das irgendwas mit mir zu tun hat.
War das wirklich erst gestern? Kommt mir vor, als wäre das schon Tage her. Aber überleg mal,
Gill, am Anfang wurden die Briefe persönlich abgegeben.« Er zündete sich die Überreste einer
Zigarette an und sog den stechenden Rauch ein. »Er war ganz in meiner Nähe, und ich hab nichts
empfunden, noch nicht mal ein Kribbeln. So viel zum Thema sechster Sinn eines Polizisten.«
»Apropos sechster Sinn, John. Ich hatte da so eine Eingebung.« Gill stellte erleichtert fest,
dass seine Stimme allmählich ruhiger wurde. Sie selbst hatte sich auch ein wenig beruhigt. Es
war, als würden sie sich gegenseitig helfen, sich auf einem sturmgepeitschten Meer an ein
überfülltes Rettungsboot zu klammern.
»Was denn?« Rebus ließ sich in seinen Sessel sinken und sah sich in dem spärlich möblierten
Zimmer um, das staubig und unaufgeräumt war. Er sah das Glas, das Michael benutzt hatte, einen
Teller mit Toastkrümeln, zwei leere Zigarettenpäckchen und zwei Kaffeetassen. Er würde diese
Wohnung bald verkaufen, egal was er dafür bekommen würde. Er würde von hier wegziehen. Ganz
bestimmt.
»Bibliotheken«, sagte Gill gerade, während sie sich in ihrem Büro umsah. Sie starrte auf die
Akten, die Berge von Papierarbeit, das Durcheinander von Monaten und Jahren, und hörte deutlich
das leise Brummen der elektronischen Geräte. »Das Einzige, was alle Mädchen einschließlich
Samantha gemeinsam haben. Sie benutzten, wenn auch nicht regelmäßig, dieselbe Bibliothek, die
Zentralbibliothek. Reeve konnte dort mal gearbeitet haben und so an die Namen herangekommen sein,
die er für sein Puzzle brauchte.«
»Das ist bestimmt ein guter Gedanke«, sagte Rebus plötzlich ganz interessiert. Aber es war sicher
ein zu großer Zufall - oder etwa nicht? Doch wie konnte man besser Informationen über John Rebus
sammeln, als sich für einige Monate oder Jahre einen ruhigen Job zu besorgen? Wie konnte man
besser junge Mädchen in die Falle locken, als Bibliothekar zu spielen? Reeve war also tatsächlich
untergetaucht, und zwar so gut getarnt, dass er praktisch unsichtbar war.
»Zufällig ist dein Freund Jack Morton bereits bei der Zentralbibliothek gewesen«, fuhr Gill fort.
»Er hat dort einen Verdächtigen überprüft, der einen blauen Escort besitzt. Er hat den Mann als
völlig harmlos eingestuft.«
»Ja, und dem Yorkshire Ripper hat man mehr als einmal bescheinigt, er sei harmlos, oder etwa
nicht? Das sollten wir noch einmal überprüfen. Wie ist der Name des Verdächtigen?«
»Keine Ahnung. Ich hab versucht, Jack Morton zu finden, aber er ist irgendwo unterwegs. John, ich
hab mir Sorgen um dich gemacht. Wo warst du? Ich hab die ganze Zeit versucht, dich zu
finden.«
»Das würde ich als Verschwendung wertvoller Zeit und Arbeitskraft bezeichnen, Inspector Templer.
Nimm dir wieder eine richtige Aufgabe vor. Finde Jack. Finde diesen Namen heraus.«
»Ja, Sir.«
»Ich bin noch eine Weile hier, falls du mich brauchst. Ich muss einige private Anrufe
erledigen.«
»Ich hab gehört, dass Rhona in stabilem...« Aber Rebus hatte bereits den Hörer aufgelegt. Gill
rieb sich seufzend das Gesicht. Sie hätte dringend etwas Ruhe gebraucht. Sie beschloss, jemanden
zur Wohnung von John Rebus rüberzuschicken. Sie konnte nicht riskieren, dass er die ganze Zeit
vor sich hin grübelte und irgendwann vielleicht explodierte. Und dann musste sie diesen Namen
herausfinden. Sie musste Jack Morton finden.
Rebus machte sich Kaffee. Er überlegte, ob er Milch besorgen sollte, beschloss dann aber, den
Kaffee bitter und schwarz zu trinken, was dem Geschmack und der Farbe seiner Gedanken entsprach.
Er dachte über Gills Idee nach. Reeve als Bibliothekar? Es schien unwahrscheinlich, undenkbar,
doch alles, was ihm in letzter Zeit passiert war, war im Grunde undenkbar gewesen. Rationalität
konnte äußerst hinderlich sein, wenn man mit dem Irrationalen konfrontiert war. Man musste sich
in seinen Gegner hineinversetzen. Akzeptieren, dass Gordon Reeve sich einen Job in der Bibliothek
besorgt hatte, irgendetwas Unauffälliges, aber entscheidend
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