Verborgene Sehnsucht
…« Festgewachsen wie ein Baum stand er mitten im Zimmer und rang mit sich selbst. Die Vorstellung war vielleicht idiotisch, aber sie waren noch immer verbunden, und noch immer leitete die Verbindung kleine Mengen Energie von ihm zu ihr. Und sobald er den Hautkontakt zu ihr aufgeben würde, wusste Rikar – er wusste es einfach –, würde sie zusammenbrechen. »Ich habe versprochen, sie nicht loszulassen. Wenn ich es tue, stirbt sie und … Scheiße … ich kann nicht …«
»Okay … kein Problem.« Myst kam im Laufschritt an seine Seite. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und führte ihn sanft, aber bestimmt, hinüber zum Untersuchungstisch. »Du musst sie nicht loslassen, aber sie hinlegen. Sonst kann ich ihr nicht helfen … verstehst du?«
Die Worte ergaben Sinn. Waren logisch. Vernünftig. Einfach vernünftig. Und trotzdem klammerte er sich an Angela wie ein Sterbender ans Leben, unfähig, Mysts Bitte nachzukommen. Zu groß war seine Angst um sie, und wie ein wildes Tier mit scharfen Zähnen hatte er sich so tief verbissen, dass er nicht mehr wusste, wie er loslassen sollte.
Myst begegnete seinem Blick. »Vertrau mir, Rikar.«
Vertrauen . Himmel, das war eine große Bitte. Aber als Bas’ Gefährtin sanft seinen Arm drückte, lockerten sich seine Muskeln und der schützende Käfig um Angela öffnete sich. In dem Moment, in dem er sie ablegte, machte Myst sich an die Arbeit: bugsierte ihn ans Kopfende des Tisches, befahl ihm, Angelas Kopf stillzuhalten, mit ihr zu sprechen und sie zu beruhigen, damit er ihr verdammt noch mal nicht im Weg stand. Ihr Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Und Rikar widersprach auch nicht. Stattdessen sah er mit tränenverschwommenem Blick zu, wie jeder Schnitt, jeder Kratzer in ihrer blassen Haut freigelegt wurde.
Diese Bastarde. Diese verdammten Bastarde.
Sie hatten sie so schwer verletzt. Ihre übernatürliche Stärke eingesetzt, um sie zu bezwingen. Er konnte die Male ihrer Finger auf Angelas Armen und ihrer Kehle erkennen. Und Himmel, die Nadelstiche in der Rundung ihrer Taille – genau über den Hüftknochen – brachten ihn fast um. Aber das Schlimmste waren die Blutergüsse auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel.
Rikar sank am Ende des Tisches auf die Knie und schmiegte seine Wange an die ihre, während er sie sanft streichelte. Seine Gefährtin. Sogar zerschunden und entstellt war sie das Wunderbarste, das er je gesehen hatte. Und als er spürte, wie sie zuckte, und ihr Wimmern hörte, hielt Rikar sie fest und gab sich selbst ein Versprechen. Er würde sie rächen. Er würde Seattle verwüsten – die ganze Stadt in Schutt und Asche legen –, um den Schlupfwinkel der Razorback zu finden und sie alle zu vernichten.
Dieses bescheuerte Gewitter. Gespaltene Blitze zuckten aus den dunklen Wolken und ließen ihn aufleuchten wie ein Glühwürmchen. Sie ließen seine schwarzen Schuppen glänzen und versorgten den Feind mit klarer Sicht und einem deutlichen Ziel. Lothair warf sich zur Seite und jagte um eine weitere enge Kurve. Das Gebirgsgelände, all die engen Spalten und scharfen Spitzen, hätte ihm helfen sollen. Stattdessen flog er blind, kurvte wie ein Zirkustier zwischen steilen Klippen hindurch, um den Nightfury-Kriegern zu entkommen, die hinter ihm her waren.
Noch ein Blitz. Noch mehr weiß-blaues Licht.
Himmelherrgott. Das F&F (Fliehen und Fliegen) hatte sich innerhalb von Sekunden von einer einfachen Angelegenheit zu einer verdammten Höllentour entwickelt. Lothair drehte den Kopf und erhaschte einen kurzen Blick auf grüne Schuppen und glühende rubinrote Augen. Venom war direkt hinter ihm. Na, wunderbar. Bei Motivationsproblemen ging einfach nichts über die Gefahr, von Giftgas eingehüllt und dann flambiert zu werden.
Lothair tauchte unter einen Felsüberhang und hielt sich dicht an der Wand. Er hörte den fauchenden Atem und seine Nase erhaschte einen Hauch des hässlichen Giftcocktails des Nightfury. Derr’mo, das roch ja ekelhaft, wie eine Mischung aus Diesel, Terpentin und verfaulten Eiern. Er musste dringend aus seiner Reichweite verschwinden.
Noch zwei Minuten, ein paar kunstvolle Manöver und …
Puff. Wäre er verschwunden. Aber die hundertzwanzig Sekunden kamen ihm vor wie die Ewigkeit. Vor allem, solange Ernie und Bert ihm im Nacken saßen.
Die beiden Krieger waren hinter ihm her, wie der Teufel hinter der armen Seele: hartnäckig, wild und nicht unterzukriegen. Wortwörtlich. Was für eine Schande. Die beiden am Boden zu sehen, wäre ihm
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