Verborgene Sehnsucht
Bewegung wandte der Kleine den Kopf und …
Angela blinzelte. Wow. Für einen so kleinen Kerl war er ganz schön auf Zack. Vielleicht zu sehr. »Er ist einer von ihnen?«
Myst befreite ihren Finger, streichelte ihm den Bauch und nickte.
»Ist er Bastians Sohn? Der Kerl, der dich …«
»Nein. Er gehört zu dem Krieger, der im Keller angekettet ist.«
Ach so, natürlich. Im Keller ange … was? »Bitte?«
»Ist eine lange Geschichte«, sagte sie, richtete die Decke, steckte die Arme des Jungen darunter und wickelte ihn ein. »Und wenn wir schon dabei sind, wir sollten besser aufbrechen.«
Okay, jetzt gingen sie also irgendwohin? Himmel. Das war doch mal ein Themenwechsel. Die Unterhaltung war innerhalb eines Herzschlags von unangenehm zu bizarr umgeschlagen. »Äh, willst du mich vielleicht aufklären? Wer sitzt angekettet im Keller?«
»Forge. Gregor-Mayhems Vater.« Myst hob das Baby hoch, legte es an die Schulter und rutschte zur Bettkante vor. »Ich glaube, du solltest ihn kennenlernen.«
»Warum?«
»Er war bei den Razorback. Vielleicht weiß er etwas, das dir hilft, die Wichser zu kriegen.«
Bingo. Myst hatte ihre volle Aufmerksamkeit. Es gab nur ein Problem. Mac. Ihr Partner hatte oberste Priorität, der Kerl, der im Keller festsaß, musste warten. »Ich muss zuerst mit Rikar sprechen.«
»Geht nicht«, sagte sie. »Zumindest nicht vor unserem Besuch bei Forge.«
Die Unterhaltung wurde immer rätselhafter. »Was ist mit einem Handy?«
Myst tätschelte Gregor-Mayhem sanft den Rücken – Mann, der Kleine brauchte dringend einen kürzeren Spitznamen … G. M . oder so etwas – und wandte sich zur Tür. »Hier gibt es keine Telefone.«
»Dann ein Computer?«
»Was willst du denn?«
»Meinen Partner. Mac, er steckt in Schwierigkeiten und …«
»Nicht mehr.« Myst fixierte sie mit ihren blauen Augen und streichelte G. M . über den Hinterkopf. »Rikar ist vor einer Stunde aufgebrochen … bei Sonnenuntergang … um ihn zu holen.«
Angela schloss die Augen und sprach ein stummes Dankgebet. Mac war in Sicherheit. Aber noch während die Erleichterung sie durchströmte, fragte sie sich, ob es eine gute Idee war, dass Rikar ihrem Partner nachstellte. Wahrscheinlich nicht. Vor allem, wenn man Rikars Vorgeschichte bedachte. Sie war in bester Verfassung ins McGovern’s gegangen, um Himmels willen, mit nichts im Sinn als einem Glas Cran-Raz, und mit einem riesigen Loch in der Erinnerung wieder herausgekommen.
»Rikar wird ihm nichts tun, oder?« Das wollte sie wohl hoffen. Sonst würde sie sicher ein paar neun Millimeter Geschosse finden, die in das leere Magazin ihrer Glock passten.
»Nein. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, aber der Plan ist, Mac hierherzubringen. Und das heißt, wir sollten uns wirklich beeilen, bevor mein Gefährte und die Jungs wiederkommen.«
Angela blinzelte. »Gefährte?«
»Bastian. Ich bin mit ihm zusammen.« Myst grinste ihr zu und ging in Richtung der Tür auf der anderen Seite des Raumes. »Es klingt verrückt, ich weiß, aber ich liebe ihn, also war es die einfachste Lösung … und die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.« Als sie an der Schwelle innehielt und Angela über die Schulter einen Blick zuwarf, wurde ihre unbeschwerte Miene ernst. »Das Einzige, was mir wirklich schwerfällt, ist auf Tania zu verzichten. Ich vermisse sie so sehr, dass es wehtut.«
Angela nickte. Sie erinnerte sich daran, wie sie Tania für die Befragung ins Revier bestellt hatten. »Sie vermisst dich auch.«
»Du hast mit ihr gesprochen?«
»Wir haben sie befragt, als wir dich nicht finden konnten.«
»Geht es ihr gut?«
»Ja«, antwortete sie. »Aber sie ist fest entschlossen, dich zu finden.«
»Mist.« Mit schmerzhaftem Gesichtsausdruck schüttelte Myst den Kopf. Plötzlich kämpfte sie mit den Tränen. »Ich würde dafür sterben, sie anrufen zu können, aber das würde alles nur noch schlimmer machen, verstehst du? Wenn ich sie anrufe, wird sie nur noch mehr versuchen, mich zu finden. Es wäre nicht fair, sie in diese Welt hineinzuziehen, also ist es besser, wenn ich verschwunden bleibe. Aber es bringt mich um, dass ich sie nicht wissen lassen kann, dass es mir gut geht.«
»Kann ich nachfühlen«, murmelte Angela. Sie verstand Mysts Dilemma. Verdammt, wenn sie es tat, verdammt, wenn sie es nicht tat … keine Situation, in der man gerne steckte. Was bedeutete, es war Zeit für einen Themenwechsel, bevor Myst wieder anfing zu heulen.
Angela räusperte sich.
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