Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich weiß, wie das läuft. Ihr könnt mich nicht festhalten.“
„Begreifen Sie denn nicht?“ fragte Santos frustriert, „Sie könnten die Nächste sein. Wenn dieser Bursche hört, dass Sie etwas gesehen haben und bei der Polizei waren, ist er hinter Ihnen her. Es ist sicherer für Sie, wenn Sie uns helfen, damit wir den Kerl kriegen. Machen Sie reinen Tisch und …“
„Du willst mich beschützen? Das ist doch lächerlich. Ich bin nur eine Nutte. Du bringst mich zum Reden, und dann lässt du mich laufen. Du kümmerst dich einen Scheiß um mich.“
„Das stimmt nicht.“ Santos stand auf. „Ich will nicht, dass weitere Mädchen sterben. Ich will nicht, dass Sie sterben.“
„Ich lasse es darauf ankommen.“
„Schauen Sie, Tia.“ Santos schob lässig die Hände in die Hosentaschen. „Wir reden einfach ein bisschen über alles Mögliche und versuchen uns kennen zu lernen. Und wenn es dann etwas gibt, das Sie loswerden möchten …“
„Du erinnerst dich nicht an mich, was?“ Sie spie die Worte geradezu aus. „Du hast nicht den kleinsten Anhaltspunkt.“ Sie fror, dass ihr die Zähne klapperten, und sie rieb sich die Arme. „Warum solltest du auch? Du hast mich in dem Moment vergessen, als du gegangen bist.“
„Kennen wir uns denn? Tut mir Leid, Tia, aber ich erinnere mich nicht an Sie. Ich lerne hier durch meine Arbeit eine Menge Mädchen kennen …“
Sie lachte hohl und hoffnungslos, was einem unter die Haut gehen konnte. „Damals war ich noch kein Straßenmädchen. Und du warst kein … Bullenschwein.“
Er betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf, entdeckte jedoch nichts Vertrautes an ihr. „Okay, Tia, dann frischen Sie mein Erinnerungsvermögen auf.“
„Ich heiße Tina, kapiert? Tina!“ Sie schnappte sich ihre Handtasche, schlang sich den Riemen über die Schulter und marschierte zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen und sah ihn an. „Und jetzt denk nach, du Held.“
Einen Augenblick war er ratlos. Dann erinnerte er sich an die Nacht, in der seine Mutter starb, an das Mädchen, das er in der leeren Schule an der Esplanade kennen gelernt hatte.
Tina? Das Mädchen, das damals weggelaufen war? Konnte das sein? Er erinnerte sich an Tina: lieb, ängstlich und verletzlich. Er erinnerte sich an ihre Tränen und an ihren Kuss. Er erinnerte sich, wie sie sich an ihn geklammert hatte vor Angst, allein zu bleiben. Und er erinnerte sich an sein Versprechen: „Ich komme zurück zu dir, Tina. Morgen. Ich verspreche es.“
Aber dazu war es nicht gekommen. Zwanzig Minuten später war seine Welt eingestürzt, und Trauer und Einsamkeit hatten ihn schier verschlungen.
Er sah Tina an, und sein Herz war schwer vor Erinnerungen, vor Bedauern und vor Traurigkeit, was aus ihrem Leben geworden war. Er hatte unendlich viel mehr Glück gehabt.
„Richtig!“ keifte sie. „Aber du bist nicht zurückgekommen, du Bastard. Ich habe gewartet, endlos …“ Sie brach ab, riss die Tür auf und stürmte hinaus.
Jackson sprang auf. „Ich hole sie.“
Santos hielt ihn am Arm zurück. „Lass sie. Wir wissen, wo wir sie finden.“
Jackson schnaubte frustriert: „Nettes Mädchen.“
„Ja“, bestätigte Santos bewegt. „Vor langer Zeit war sie mal ein wirklich nettes Mädchen.“
52. KAPITEL
Die Beamtin am Empfang betätigte den Türöffner und ließ Liz in die Büros des Morddezernats in der dritten Etage des Präsidiums ein. Liz wechselte ein paar Freundlichkeiten mit ihr und ging dann auf Santos’ Schreibtisch im hinteren Teil des großen Raumes zu. Im Vorbeigehen wurde sie von einigen Detectives lächelnd gegrüßt. Sie erwiderte die Grüße und bekämpfte ihre wachsende Nervosität und das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war.
Sie hatte Santos seit Lilys Beerdigung vor drei Tagen nicht gesehen. Die wenigen Male, die sie miteinander telefoniert hatten, hatte sie ihn angerufen. Und jedes Mal hatte er abwesend und distanziert geklungen. Sie hatte gehört, dass er nicht gern mit ihr sprach, und er entschuldigte sich, dass er nicht die Zeit hatte, zu ihr zu kommen.
Er sucht Vorwände, er hat mich bereits aufgegeben.
Nein, das konnte nicht sein. Es gab einen Durchbruch im Fall des Schneewittchen-Killers, und er arbeitete fast rund um die Uhr. Er hatte wirklich keine Zeit für sie. Sagte er zumindest. Außerdem machte er eine schwierige Phase durch. Nach Lilys Tod fühlte er sich einsam und hatte sich in Arbeit vergraben. Das hatte nichts
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