Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
am Tresen Zivilisten wie Polizisten mit donnernder Stimme Anweisungen. Santos erwartete jeden Moment, dass er ihm zurief: „Okay, Kid, Detective Patterson wird dich jetzt empfangen.“
Santos kannte das schon. Er und Patterson wurden richtige Freunde. Santos ballte die Fäuste. In dem Wunsch, etwas oder jemand zu schlagen, vorzugsweise Pattersons arrogante Visage.
Aus zwei Zeitungen, Times Picayune und State’s Item , hatte er die Einzelheiten des Mordes erfahren. Sie hatten beschrieben, wo und wie Lucia Santos erstochen worden war. Sie hatten den Verlauf ihres letzten Abends rekonstruiert: Sie war zur Arbeit im Club 69 gegangen, wo sie nachts tanzte. Sie hatte einen Freier aufgegabelt, den sie mit nach Hause nahm. Nach dem Geschlechtsakt wurde sie getötet. Neben ihrem Bett fand man einen angebissenen Apfel.
Man hatte sie eine Prostituierte genannt und spekuliert, sie sei von ihrem Freier umgebracht worden.
Nachdem Santos die Geschichte gelesen hatte, musste er sich übergeben. Dann war er zornig geworden. Beide kleine Artikel, keiner länger als drei Absätze, waren in dem Ton geschrieben: Na ja, wieder eine tote Nutte. Wen interessiert das?
Er hatte die Journalisten angerufen, die das geschrieben hatten. Seine Mutter sei keine Prostituierte gewesen, hatte er sie belehrt. Sie sei exotische Tänzerin gewesen. Sie sei seine Mutter gewesen, und er habe sie geliebt.
„Ich bedaure deinen Verlust, Kid“, hatten beide gesagt, „aber ich schreibe, wie ich es sehe.“
Die Polizei war nicht besser gewesen. Er hatte angerufen. Zuerst waren sie freundlich, wenn auch herablassend. Geduldig hatten sie ihm erklärt, wie das System funktionierte. Es gab nichts Neues, sie taten ihr Bestes.
Sie hatten sogar ihn verhört und sein Alibi für die Tatzeit überprüft. Dann hatte man ihn entlassen, wie man sich eines lästigen Insekts entledigt.
Ruf nicht an , hatten sie noch gesagt. Wir rufen dich an.
Santos wollte verdammt sein, wenn er ihnen das durchgehen ließ. Und garantiert würde er nicht gestatten, dass die so mit seiner Mutter umsprangen. Bloß weil sie in deren Augen nur eine weitere tote Nutte war.
Er hatte sie jeden Tag angerufen – mindestens ein Mal. Er war hier auf der Wache gewesen. Nun, nachdem sie eine Woche seine Anrufe und Besuche toleriert hatten, wurden sie weniger freundlich, weniger geduldig. Keine Spuren, keine glücklichen Wendungen, weiter zum nächsten Opfer.
Ihr Körper lag kaum in der Erde, und sie hatten den Fall abgeschlossen. Sie hatten es ihm nicht gesagt, aber Santos wusste es auch so. Manches musste man nicht aussprechen, um es zu wissen.
Wen kümmert schon ein Niemand von Nutte? Die interessiert einen Scheiß!
Santos senkte den Kopf in die Hände und sah seine Mutter vor sich, wie sie bei ihrem letzten Abschied lächelnd über die Schulter geblickt und gewinkt hatte.
Er hatte ihr keinen Abschiedskuss gegeben und ihr nicht gesagt, dass er sie liebte, weil er sich für zu erwachsen gehalten hatte.
Seine Augen brannten, und er presste die Lippen fest zusammen. Er hielt die Tränen zurück, doch die Erinnerungen an seine Mutter verwandelten sich rasch in die Albtraumbilder, die ihn jede Nacht schweißnass und mit Tränen auf den Wangen aus dem Schlaf rissen. In rascher Bildfolge sah er seine Mutter und ihren Killer. Er hörte sie Hilfe suchend nach ihrem Sohn rufen. Und dann sah er sie, wie sie tot unter dem weißen Laken lag.
Sie hatte nach ihm gerufen, und er war nicht für sie da gewesen. Er hatte über ihre Ängste gelacht. Er hatte getan, wonach ihm der Sinn stand, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle und ihre Sicherheit.
Und jetzt war sie tot.
Seine Schuldgefühle waren erdrückend. Er presste sich die Handballen auf die Augen. Seinetwegen war sie mit diesem Freier zusammen gewesen, weil er Schulkleidung brauchte und teure Arztbesuche anstanden. Sie war tot, weil er nicht da gewesen war, um sie zu retten.
Hatten ihre letzten Gedanken ihm gegolten? War sie zornig auf ihn gewesen, enttäuscht? Neuerliche Rührung würgte ihn. Warum hatte er nicht gehorcht? Warum war er so lange bei Tina geblieben?
Er hatte erst zwei Tage später wieder an Tina gedacht, als die Polizei ihn die Nacht des Mordes rekonstruieren ließ. Einige der Kids hatten bestätigt, dass sie in der Schule zusammen gewesen waren. Tina war verschwunden.
Zu sehr mit seinem eigenen Schmerz beschäftigt, hatte er sich nur flüchtig gefragt, was mit dem Mädchen geschehen war. War sie nach Hause gegangen? Was mochte
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