Verbotene Früchte - Spindler, E: Verbotene Früchte
Fluchtversuchen falsch gemacht hatte.
Ich bin nicht weit genug weggelaufen.
Er musste fort von New Orleans. Er würde es nicht ertragen, wenn man ihm noch mal eine neue Familie, eine neue Schule und eine neue Umgebung aufzwang. Er war jetzt sechzehn, fast erwachsen. Er schaffte es aus eigener Kraft.
Seine Flucht war sorgfältig geplant. Er hatte jeden Dollar gespart, insgesamt zweiundfünfzig, sich die Karte von Louisiana angesehen und sich für Baton Rouge entschieden. Die Stadt war groß genug, um in ihr unterzutauchen, sie war Universitätsstadt mit einer Menge junger Leute, und sie war nah an New Orleans. Nur neunzig Meilen oder so entfernt.
Santos hatte den Schwur, den Mörder seiner Mutter zu finden, nicht vergessen. Sobald er alt genug war, dass die staatliche Fürsorge ihn nicht mehr schnappen konnte, würde er zurückkommen und seinen Schwur einlösen.
Der Gedanke an seine Mutter tat ihm im Herzen weh. Er nahm ein kleines Schmuckkästchen aus seiner Kommodenschublade und ließ die Schulsachen, die er nun nicht mehr brauchte, zurück. Er öffnete das Kästchen und nahm die Ohrgehänge aus bunten Glasperlen heraus.
Vorsichtig, fast ehrfürchtig, legte er sie in seine Hand. Sie waren billig und ein wenig kitschig, aber seine Mutter hatte sie geliebt. „Österreichisches Kristall“, hatte sie ihm an dem Tag erklärt, als sie sie kaufte, und sie lachend angesteckt. Sie waren so lang, dass sie fast ihre Schultern berührt hatten. Deshalb nannten sie sie Schulterabstauber.
Vor seinem geistigen Auge sah er sie an seiner Mutter, wie das Licht sich in ihnen brach wie in bunten Diamanten.
Die Erinnerung war süß und schmerzlich zugleich. Er legte die Ohrgehänge wieder auf ihr Wattebett und stopfte das Kästchen zusammen mit den anderen Sachen in seinen Seesack. Er wollte ihn gerade schließen, zog das Kästchen aber noch einmal heraus und schob es in seine Jeanstasche. Dort würde es sicherer sein.
Seine Mutter hatte nichts Wertvolles besessen. Aber diese Ohrgehänge bedeuteten ihm mehr als Diamanten. Er durfte sie nicht verlieren.
Er schloss den Sack und sah sich noch einmal in dem Zimmer um, in dem er sich nie wirklich heimisch gefühlt hatte. Er bedauerte nichts, weder, dass er die Familie ohne Abschied verließ, noch, dass er sich mitten in der Nacht hinausschlich und sich zwanzig Dollar aus der Kaffeedose borgte. Der Familie tat es nicht Leid, wenn er weg war. Und das Geld gab er zurück, sobald er konnte.
Santos ging zum Fenster und schob es vorsichtig hoch. Er warf den Sack hinaus und folgte ihm in die Nacht.
Dreißig Minuten später kletterte Santos auf den Beifahrersitz eines fast neuen Chevy-Van. „Danke, Mann“, sagte er zu dem Fahrer, der ihn aufgelesen hatte. Er rieb sich die kalten Hände vor der Lüfterdüse. „Ich dachte schon, ich würde da draußen erfrieren, ehe mich einer mitnimmt.“
„Freut mich, dass ich helfen kann.“ Der Bursche streckte ihm lächelnd eine Hand hin. „Ich bin Rick.“
Santos schüttelte ihm die Hand, obwohl ihn ein leicht ungutes Gefühl dabei beschlich. „Ich bin Victor.“
„Schön, dich kennen zu lernen.“ Rick legte den Gang ein und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. „Wohin willst du, Victor?“
„Nach Baton Rouge. Meine Großmutter ist im Krankenhaus.“ Santos beugte sich wieder zum warmen Luftstrom der Heizung vor. „Es geht ihr ziemlich schlecht.“
„Tut mir Leid, das zu hören. Aber du hast Glück …“ Er streifte Santos mit einem Lächeln. „Ich muss zurück an die Uni. Ich kann dich den ganzen Weg mitnehmen.“
Ich bin unterwegs! Santos lächelte: „Großartig. Ich hätte wirklich nicht gern wieder in der Kälte gestanden.“
„Ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee hinten, falls du welchen möchtest.“
„Nein danke. Ich kann das Zeugs nicht ausstehen.“ Santos sah sich im Wagen um. Von innen wirkte er noch neuer als von außen. „Wie lange sind Sie schon an der Uni?“
Rick sah ihn flüchtig an, dann wieder auf die Straße. „Ich mache dieses Jahr meinen Abschluss. In Psychologie. Dann habe ich wohl einen ,Doktor‘ vor meinem Namen.“
Santos dachte bedauernd an den Wunsch seiner Mutter, er solle in der Schule bleiben. Er fühlte sich schuldig, weil er sein Versprechen nicht gehalten hatte. Die Schuldgefühle zu verdrängen war nicht leicht. „Was macht ein Doktor der Psychologie?“
„Er arbeitet zum Lebensunterhalt am Seelenzustand anderer. Er hilft Leuten, ihre psychischen Probleme aufzuarbeiten. Wir
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