Verbotene Sehnsucht
würde! Was sie kaum für möglich gehalten hätte, passierte soeben: Sie entdeckte eine ganz neue Dimension des Elends.
» Danke, das ist sehr freundlich.« Obwohl die Gedanken in ihrem Kopf sich wie ein Karussell drehten, klang ihre Stimme einigermaßen fest. Sie wandte sich zu Mutter und Bruder hin. » Darf ich mich zurückziehen?«
Lady Armstrong nickte kurz, während Thomas seine Schwester mit regloser Miene im Auge behielt. Missy weigerte sich, James anzusehen. Unter den nach wie vor tadelnden Blicken der am Tisch Versammelten verließ Missy den Speiseraum, sichtlich um einen einigermaßen würdigen Abgang bemüht.
Ein paar Stunden später klopfte es leise an ihrer Schlafzimmertür. Sie hatte sich schon zur Nacht fertig gemacht, hockte im Schneidersitz auf dem Bett mit dem aufgeschlagenen Tagebuch vor sich, das die erlittene Demütigung in schwarzer Tinte für die Ewigkeit aufbewahren würde. Sie schlug das Buch zu und rechnete damit, dass ihre Mutter kam, um ihr die mehr als verdiente Strafpredigt zu halten, doch überrascht musste sie feststellen, dass es ihr Bruder war, der durch den Türspalt lugte. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass er sie nicht gerade beim Entkleiden störte, trat er ein und schloss die Tür leise hinter sich.
Missy seufzte. Ihr Bruder, das fehlte ihr gerade noch. Thomas sah sich nur selten veranlasst, ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Aber jetzt stand ihr das ganz eindeutig bevor, wie sie an seiner strengen Miene ablesen konnte. Ängstlich wartete sie ab.
» Wie ich sehe, schläfst du noch nicht.« Der plüschige Teppich verschluckte das Geräusch seiner Schritte, als er sich ihrem Bett näherte. Er blieb stehen. Sein blonder Schopf berührte den blauen Baldachin ihres Bettes.
» Ich weiß, was du sagen willst…«
Thomas hob die Hand zum Zeichen, dass sie den Mund halten sollte. » Ich bin nicht hergekommen, um dir Vorhaltungen zu machen. Also beruhige dich.« Er verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. » Ich will dir nur sagen, dass es vorübergehen wird.«
Er setzte sich auf die Bettkante.
» Ich weiß nicht, was du meinst«, behauptete sie, obwohl sie es genau wusste.
» Deine Gefühle für Rutherford.« Aus seiner Stimme klang Sorge, aber gleichzeitig Verständnis.
Missy schüttelte rasch den Kopf und wollte widersprechen, doch der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sie innehalten, und sie schloss den Mund. Thomas kannte sie zu gut, hatte alles miterlebt und würde ihr nicht glauben, wenn sie es abstritt.
Als Missys schwärmerische Liebe zu James begann, war sie zu jung und zu naiv gewesen, um ihre Zuneigung zu verbergen, und so konnte es niemandem verborgen bleiben, einschließlich James. Deshalb hatten heute Abend auch alle sofort den eigentlichen Grund für Missys unakzeptables Verhalten, für ihre beleidigenden Worte erkannt: Eifersucht.
Folglich schüttelte sie einfach nur den Kopf und brachte mit belegter Stimme hervor: » Ich fürchte, dass es niemals aufhört.« Tapfer drängte sie die Tränen zurück, die ihr in die Augen stiegen.
» Du könntest jeden beliebigen Gentleman haben, wenn du nur wolltest. Bis in die höchsten Kreise. Selbst einen künftigen Duke. Ich werde niemals verstehen, warum du dein Herz ausgerechnet an Rutherford hängen musstest«, meinte er mit leisem Spott und zog sie sanft in die Arme.
Begriff er etwa nicht, dass es sich um Schicksal handelte und ihr gar keine Wahl geblieben war? Verzweifelt barg sie das Gesicht an seiner Schulter und überließ sich dem brüderlichen Trost, wie schon so oft in der Vergangenheit. Thomas stand ihr sehr nahe, näher sogar als ihr Vater zu seinen Lebzeiten, und sie betrachtete ihn als die vertrauteste männliche Bezugsperson in ihrem Leben. Dass er überdies James’ bester Freund war, schuf eine zusätzliche Verbindung zwischen ihnen, die sich kaum mit Worten beschreiben ließ.
Sanft umfasste er ihre Oberarme und schob sie ein kleines Stück fort, um ihr verzweifeltes Gesicht zu betrachten.
» Ich empfinde für James wie für einen Bruder, aber er ist nicht der Richtige für dich. Du hast einen besseren Mann verdient, einen, der treuer und beständiger ist. Rutherford und ich sind uns in dieser Hinsicht einig, und vielleicht verstehen wir uns deshalb so prächtig. Ich wünsche mir jemanden für dich, der dich liebt und ehrt. Rutherford hat noch niemals geliebt, und ich bezweifle, ob er zu solchen Gefühlen überhaupt in der Lage ist.« Thomas’ Blick ruhte freundlich und ernst zugleich
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