Verbotene Sehnsucht
auf ihr. » Ich könnte es nicht ertragen, dass du verletzt wirst.«
Missy hörte zu und begriff, was ihr Bruder meinte, doch sie konnte seine Charakterisierung des Freundes nicht mit dem James in Einklang bringen, den sie kannte. Warum sollte ein Mann, der so voller Leidenschaft war, nicht auch zu mächtigen Gefühlen wie Liebe imstande sein?
Nein. Thomas irrte sich. Trotzdem durfte sie ihm nicht widersprechen, denn er meinte es gut mit ihr, hatte nichts als ihr Wohlergehen im Auge.
Missy nickte zerknirscht. » Ich nehme an, dass Mama sich furchtbar über mich aufregt.«
» Sie ist dir nicht böse…« Als er bemerkte, dass sie ungläubig staunte, brach er ab. » Missy, sie ist besorgt. Genau wie ich. Auch sie möchte nicht, dass du verletzt wirst. Allerdings dein Benehmen heute Abend beim Essen…«
Sie winkte ab. Unnötig, dass er zu Ende sprach. Alle am Tisch konnten ihr beklagenswertes Verhalten bestätigen und wurden Zeugen ihrer Demütigung. Nicht nur dass sie Mrs. Laurel um Verzeihung bitten musste, sondern auch noch James. Was sie bislang vor sich herschob, denn dies vor aller Augen zu tun, schien ihr unmöglich. Deshalb war sie feige aus dem Zimmer geflüchtet und hoffte auf eine günstigere Gelegenheit, sobald sich sein Zorn abgekühlt hatte.
Mit dem Zeigefinger hob Thomas ihr Kinn. » Im Moment gilt meine einzige Sorge der Frage, ob es damit endet, dass du dein Leben daran verschwendest, auf einen Mann zu warten, der dich niemals lieben wird. Auf einen Mann, der deine Liebe niemals verdient. Oder meinst du, dass du in dieser Saison die Kraft aufbringen kannst, den Gentlemen, die dir den Hof machen, eine Chance zu geben, dein Herz zu gewinnen? Vielleicht sogar Granville? Komm schon, du weißt, dass dein Leben weitergehen muss.«
James vergessen? Was gäbe sie nicht alles darum, doch es funktionierte nicht, würde niemals funktionieren. Resigniert schenkte Missy ihrem Bruder ein zittriges Lächeln.
Schon vor langer Zeit war Victoria zu dem Schluss gelangt, dass ihre Mutter sich überfürsorglich verhielt. Nein, nicht nur das, sie benahm sich außerdem schmeichlerisch und devot gegenüber Ranghöheren– eine zugegebenermaßen kleine Gruppe, zu der neben den Mitgliedern des Königshauses eigentlich nur die Herzöge und herausgehobene Staatsdiener gehörten. Und weil ihr die Hierarchie wichtig war, benahm sie sich entsprechend herablassend gegenüber den Trägern niedrigerer Titel, ganz zu schweigen von denen, die überhaupt keinen besaßen.
Wie fast alle Mütter wünschte sich die Marchioness Cornwall deshalb für ihre Tochter eine gute Partie aus höchsten Kreisen, doch Victoria machte es ihr schwer. Immerhin absolvierte sie bereits ihre fünfte Saison, nach dem mütterlichen Willen die letzte. Wenn es wieder nicht klappte mit einem Ehemann, wollte Lady Cornwall ihre Ambitionen und Hoffnungen begraben. Aber es wäre eine böse Schlappe und ein peinlicher Gesichtsverlust dazu.
» Ich verstehe nicht, was mit Lord Rutherford los ist. Seit seinem letzten Besuch sind drei Wochen vergangen.« Ihre Mutter bemühte sich erst gar nicht, die Kränkung zu verbergen, und legte das volle Gesicht in tiefe Falten.
Es dürfte wohl sein erster und letzter Besuch gewesen sein, grübelte Victoria, behielt diese Erkenntnis allerdings für sich.
Lady Cornwall rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und stieß Victoria den Ellbogen in die Taille.
» Au«, entfuhr es der Tochter, und rasch blickte sie sich um, ob die anderen Theaterbesucher etwas mitbekommen hatten, doch niemand schien Notiz von ihnen zu nehmen. Alle nutzten offenbar die kleine Pause zwischen zwei Akten, um sich angelegentlich allerlei Klatsch und Tratsch hinzugeben.
Die Marchioness warf ihrer Tochter, deren Verhalten sie in letzter Zeit in keiner Weise mehr zu schlüsseln vermochte, einen fragenden Blick zu. Aber wie immer brachte sie nichts aus Victoria heraus, die angestrengt auf die verdunkelte Bühne starrte, um einer Diskussion mit der Mutter zu entgehen.
» Ich habe es dir schon gesagt, Victoria, und ich sage es dir noch einmal, ich werde dir nicht erlauben, einen weiteren Kandidaten abzulehnen. Das alles verdanken wir nur deinem Vater, der dich maßlos verwöhnt und dir immer deinen Willen gelassen hat. Aber was wird er tun, wenn du am Ende sitzenbleibst und nicht mehr schön genug bist, um dir einen passablen Mann zu angeln? Du liebe Güte, ich würde an der Scham zugrunde gehen.« Die Marchioness hatte sich weit zu ihrer Tochter
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