Verbotene Sehnsucht
rauschte.
Victoria rührte sich mehrere Minuten lang nicht vom Fleck, bevor sie sich zurück aufs Bett legte. Sie rückte in die Mitte, kuschelte sich in die Kissen und zog die Decke bis unter das Kinn.
Eigentlich sollte sie sich darüber freuen, dass das Gespräch mit ihrer Mutter so unproblematisch verlaufen und der erwartete Wutausbruch ausgeblieben war. Eigentlich verständlich, denn was ihre Mutter anging, so war diese am Ziel ihrer Wünsche: Die Tochter schien endlich unter der Haube zu sein, in ihrer fünften Saison. Angesichts dieser Tatsache durfte man über die Begleitumstände hinwegsehen.
Die Ambitionen ihrer Mutter waren ursprünglich sehr hochgespannt gewesen, denn in der ersten Saison hatte sie sogar den Sohn eines Herzogs aus der königlichen Familie ins Auge gefasst, doch der Plan scheiterte an einer anderen jungen Dame. Danach musste sie sich neu orientieren und zog jetzt auch Titelerben in Erwägung, die in der Adelshierarchie unter einem Marquess standen, zumal der einzig verbliebene künftige Duke auf dem Heiratsmarkt, der Earl Granville, keinerlei Interesse für Victoria an den Tag legte. Da kam Lady Cornwall James Rutherford wie gerufen, dessen zu erwartender Titel eines Earl of Windmere zwar geringer war als der eigene, dessen Vermögen das der Spencers jedoch bei weitem überstieg. Ja, in den Augen der Marchioness war die Verbindung mit Lord Rutherford höchst vorteilhaft.
Unglücklicherweise musste sie es dem Mann noch beibringen, dass sie ein Kind erwartete, denn sie hatte ihn bislang in dem Glauben gewiegt, in jener Nacht in seinem Haus sei nichts zwischen ihnen geschehen. Was damals in Ordnung war, doch nun stand sie vor einer veränderten Situation, und Rutherford war ihr letzter Anker, um sie vor den zu erwartenden Peinlichkeiten zu bewahren.
Wie würde er reagieren, wenn sie ihm von der Schwangerschaft erzählte? Du lieber Himmel, wie sie diesen ganzen Schwindel hasste. Aber welche Wahl blieb ihr schon? Keine. Dankenswerterweise wusste sie eines: Man mochte ihm alles Mögliche nachsagen, doch gewiss keine Unehrenhaftigkeit. Ein schicksalsergebener Seufzer schlüpfte ihr über die Lippen. Er würde sich wie ein Gentleman verhalten und das tun, was der Anstand von ihm verlangte.
Die kurze Nachricht erreichte James am nächsten Morgen, als er noch im Bett lag. Randolph gab ihm das versiegelte, gefaltete Papier, während er sich aufsetzte.
» Mir wurde ausgerichtet, es sei dringend. Und dass der Bote unten auf eine umgehende Antwort wartet«, sagte er.
Rasch las James die Nachricht und zog die Stirn kraus. » Richten Sie ihm aus, dass ich dort sein werde«, stieß er hervor.
» Ich werde Ihr Bad vorbereiten«, kündigte der Diener auf dem Weg nach draußen an.
Innerhalb einer Stunde saß er auf dem Bock seines Jagdwagens und fuhr über den Piccadilly in Richtung Hyde Park. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Frage, was Victoria Spencer ihm wohl zu sagen hatte, denn ihrer Nachricht ließ sich nicht viel entnehmen:
Lord Rutherford,
ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist dringend. Bitte treffen Sie mich im Hyde Park, an der großen Ulme am Rotten Row.
Victoria Spencer
James war überzeugt, dass es sich um dieselbe Angelegenheit handelte, die sie vier Wochen zuvor nachts in sein Haus getrieben hatte. Seither war er ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Sie musste also ziemlich verzweifelt sein, wenn sie auf diese Art Kontakt suchte.
Er fand sie genau am verabredeten Ort. Die Ulme war die größte im Park und wurde oft als Treffpunkt genutzt. So früh am Morgen waren nur wenige Fußgänger und noch weniger Kutschen und Reiter unterwegs. Er brachte seinen Jagdwagen vor ihrer Kalesche zum Stehen und stieg ab. Lady Victoria trug eine blaue Haube mit einem Arrangement aus blauen und weißen Blumen und ein blau bedrucktes Tageskleid aus weichem Musselin mit geradem Ausschnitt und kurzen Ärmeln. Sie sah eigentlich aus wie immer, nur wenn man genau hinschaute, entdeckte man einen verhärmten Zug um ihren Mund.
Victoria lächelte tapfer, als er sich näherte. » Danke, dass Sie so schnell kommen konnten, Lord Rutherford.«
James lächelte ebenfalls, wenngleich zurückhaltend. » Wie sollte ich Ihre dringende Bitte missachten können?«
» Lassen Sie uns in meiner Kutsche Platz nehmen. Es ist ziemlich neblig heute früh.«
Er half ihr in den Wagen, der innen mit elegantem rotem Leder und Messinggriffen ausgestattet war. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm er ihr
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