Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Hall, an das gepflegte Eßzimmer, an schimmerndes Zinngeschirr, honigduftende Kerzen, an Harriets gütiges und Phillips freundliches Gesicht, an sanfte, einhüllende Sicherheit.
Du hast gewählt, sagte eine Stimme in ihr, frei und unabhängig gewählt, und du hast gegen Ruhe und Sicherheit entschieden. Unbewußt war dir klar, daß es nicht deine Bestimmung sein konnte, ein ganz gewöhnliches Leben zu führen. Dies war dir ohnehin nicht gegeben. Eine so harte Jugend durchlebt nicht, wer nachher in unerschütterliches Gleichmaß fallen soll.
Sie öffnete die Augen wieder und warf die Haare zurück. Sollte doch der Teufel diese widerliche Person holen. Sie würde sich jetzt nicht unterkriegen lassen, nicht von einer solchen Frau und nicht von eigenen wehmütigen Gedanken. Der Ernst des Augenblicks forderte entschlossenes Handeln von ihr.
Im Schutz einiger Bäume schlich Elizabeth vorsichtig zum Hof zurück, diesmal aber in einem großen Bogen von der anderen Seite kommend. Sie betete, daß nicht irgendein Hund anfangen würde zu bellen, doch alles blieb ruhig. Wahrscheinlich wurden um diese Zeit auch die Tiere gefüttert, und die Hunde waren wohl mit ihren Knochen beschäftigt.
Das langgezogene Stallgebäude lag seitlich neben dem Wohnhaus und konnte durch eine kleine Nebentür betreten werden. Warmer Kuhgeruch umfing Elizabeth, als sie leise hineinhuschte. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an das Dämmerlicht, und schnell erspähte sie die vielen Kannen, die in einer Ecke standen, gefüllt mit frischgemolkener, sahniger Milch. Wenn sie schon nichts Eßbares auftreiben konnte, dann würde wenigstens die Milch John ein bißchen Kraft geben. Sie ergriff zwei Kannen und lief so eilig und geräuschlos, wie sie gekommen war, wieder davon. Statt wie kurz zuvor Demütigung zu empfinden, erfüllte sie jetzt Triumph. Gut, wenn die Umstände sie zwangen, dann stahl sie eben.
Und wenn es sein müßte, dachte sie, für John würde ich einen Mord begehen.
John saß noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Er winkte ihr lässig zu, aber er lächelte etwas verzerrt dabei, und sie konnte sehen, daß ihm keine Bewegung leichtfiel.
»Haben deine Augen jetzt etwa einen Bauern erweicht, daß er dir Milch geschenkt hat?« fragte er. Elizabeth stellte keuchend die schweren Kannen neben ihm ab.
»Es gab leider nur eine Bäuerin, und sie konnte ich nicht erweichen«, erklärte sie, »ich habe die Milch gestohlen!« John sah sie voller Anerkennung an.
Elizabeth reichte ihm eine der beiden Kannen.
»Trink«, bat sie, »sie ist sogar noch warm!«
Johns Gesicht verzog sich angewidert, doch sein Hunger war zu stark, und er trank, ohne einmal abzusetzen, die halbe Kanne leer. Danach schlief er fast augenblicklich ein. Elizabeth nahm selbst einige Schlucke, bevor sie sich neben ihm auf der Erde ausstreckte. Ihr war klar, daß sie spätestens übermorgen London erreichen mußten, damit John eine Unterkunft und einen Arzt fand. Wenn nur sein Fieber nicht stieg bis dahin! Vor lauter Sorge tat sie fast die ganze Nacht kein Auge zu. Sie erlebte das Heraufdämmern des nächsten Morgens mit, beobachtete Johns langsames Erwachen aus tiefen Fieberträumen und erschrak vor dem glänzenden, verschwommenen Blick seiner Augen. Sein Arm hatte sich um die Einschußstelle bläulich gefärbt und war angeschwollen, aber John jammerte nicht über Schmerzen, sondern klagte nur über brennenden Durst und zunehmende Schwäche. Sie gab ihm noch etwas von der Milch, aber das vermochte ihm kaum zu helfen. Als sie weitergingen, lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, so daß sie bald meinte, jeden Moment zusammenzubrechen. Sie machten nahezu jede Viertelstunde eine Pause. Elizabeth war den Tränen nahe, weil sie kaum noch wußte, was sie tun sollte. Am späten Nachmittag erreichten sie einen Meilenstein mit der Aufschrift »London«, und gerade an dieser Stelle brach John mitten auf dem Feldweg zusammen und stützte seinen unverletzten Arm in den Staub.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte er. »Elizabeth, ich kann nicht mehr!« Zu ihrem Entsetzen erkannte Elizabeth Tränen in seinen Augen.
Wenn John weint, halte ich es nicht aus, dachte sie panisch, ich kann es nicht ertragen!
»Ruh dich aus, Liebling«, sagte sie beherrscht, »so lange du möchtest. Wir haben Zeit. Guck mal, es ist gar nicht mehr weit bis London!«
»Ich schaffe es nicht. Ich habe kein Gefühl mehr in meinem Arm, und das Fieber bringt mich um. Ich bin zu schwach...« Seine
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