Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
denn dein kleines bißchen Verstand ganz verloren? Da unten steht meine liebe Elizabeth, und du läßt sie warten! Einen Moment«, schrie sie wieder nach unten, »ich komme gleich!«
Diesmal dauerte es gar nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde und Samantha heraustrat. Mit einem Ausruf des Entzückens wollte sie Elizabeth umarmen, doch sie hielt sich erschrocken zurück.
»Ach Gott, das ist ja eine erwachsene Frau«, rief sie. »Himmel, ich hätte Sie nie wiedererkannt!« Dann fiel ihr Blick auf John, und sie stieß einen Schrei aus.
»Wer ist das?«
»Leise«, mahnte Elizabeth, die langsam fürchtete, daß bald die ganze Straße aufwachte, »er ist schwer verletzt, er wurde angeschossen. Samantha, dürfen wir bei Ihnen bleiben?«
»Natürlich, natürlich, Mrs....«
»Immer noch Miss Landale.«
»Und der da?«
»John Carmody. Ich lebe mit ihm zusammen.«
»Ha, wer hätte das gedacht! Luke, hilf uns mal!«
Luke, so groß und breit wie einst, erschien, schüttelte Elizabeth herzlich die Hand und hob John ohne die geringste Anstrengung auf seine Arme.
»Wir sind auf der Flucht«, erklärte Elizabeth leise, »John wird wegen der Verbreitung bestimmter Flugblätter gesucht.« Samanthas Sensationsgier war sofort erregt.
»Wie aufregend«, murmelte sie ehrfürchtig, »und das geschieht einer Miss Landale!«
John wurde in denselben Raum gebracht, in dem einst Elizabeth ohnmächtig gelegen hatte. Sie erinnerte sich, daß er ihr damals größer erschienen war als jetzt und daß er armselig eingerichtet gewesen war. Jetzt merkte man, daß Samantha hier lebte. Ihre ganze Prunksucht hatte sie über das Zimmer ausgeschüttet, ihre unbändige Lust an leuchtenden Farben und auffallendem Glitzer. Zerschlissene Samtkleider türmten sich in den Ecken, seidene Tücher hingen an den Wänden, wahllos verteilten sich ganze Berge billigen, funkelnden Schmucks. Dazwischen lagen Schuhe mit hohen Absätzen, Parfümflaschen, spitzenbesetzte Unterwäsche und endlos lange Haarschleifen herum. Zweifellos war wenigstens die Hälfte davon gestohlen, aber ebenso deutlich war zu erkennen, daß Samantha ihre ganze Lebenskraft aus diesen Besitztümern zog. Voller Genuß fegte sie ein paar klirrende Armreifen vom Sofa.
»Leg Mr. Carmody hierher, Luke«, befahl sie, »ich werde ihm eine Medizin machen, die das Fieber senkt.«
Geschäftig entfachte sie ein Feuer im Herd, setzte Wasser auf und kramte mehrere Gläser mit Kräutern aus einem Schrank. Elizabeth, die neben John auf dem Sofa saß und seine Hand hielt, sah ihr zu. Trotz Angst und Mitleid dachte sie darüber nach, wie alt Samantha in den vergangenen zehn Jahren geworden war. Nahezu jede Frau, die im Londoner Osten lebte, bekam früh
dieses verhärmte Gesicht mit den eingefallenen Wangen und hohlen Augen, diesen verachtungsvollen, bitteren, fast brutalen Zug um den Mund. Ich werde auch bald so aussehen, dachte sie teilnahmslos, und zusammenhanglos fiel ihr ein: Ich möchte Samantha nicht zur Feindin haben.
Samantha schwenkte ihre langen Locken.
»Morgen holen wir einen Doktor«, verkündete sie, »aber erst wird meine Medizin helfen!«
Sie trat zu John, in der Hand eine Schüssel mit einem abscheulich riechenden Gebräu.
»Das Rezept habe ich noch von meiner Urgroßmutter«, erkärte sie, »damit hat sie ihre vierzehn Kinder durch alle Krankheiten gebracht. Keins ist gestorben!« Sie flößte John langsam die ganze Flüssigkeit ein. Wie durch ein Wunder wurde sein Atem nach einiger Zeit tatsächlich ruhiger, das Flattern seiner Augenlider ließ nach. Samantha sah es mit Zufriedenheit. »Jetzt müssen Sie aber schlafen, Miss Landale«, bestimmte sie, »Sie sehen zum Gotterbarmen aus! Reichen Ihnen ein paar Decken auf dem Boden?«
»Natürlich. Danke, Samantha!«
Doch später, als alles wieder dunkel war und Luke und Samantha sich in die Kammer nebenan zurückgezogen hatten, konnte sie nicht schlafen. Sie wälzte sich eine Weile ruhelos auf ihrem Lager hin und her, dann stand sie auf. Vorsichtig tastete sie sich den Weg zum Sofa hin. Sie ließ sich daneben nieder und ergriff Johns Hand. Halb vor sich hin dämmernd und halb wachend ließ sie die Nacht vorübergehen, hörte auf das stündliche Schlagen der Kirchturmuhren, das ihr vertraut im Ohr klang, beobachtete durch das Fenster, wie der Himmel heller wurde und das erste sanfte Tageslicht auf Johns Gesicht glitt. Erst dann schlief sie ein.
4
Die Sommerwochen in Samanthas Wohnung gruben sich für immer in Elizabeths
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