Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
würde, die Verbrecher zu decken und die Rückkehr des Earl zu verzögern.
Es gelang ihr für die restliche Zeit nicht mehr, sich auf das Stück zu konzentrieren. Natürlich, so sagte sie sich, konnten das alles Hirngespinste sein, kam es ihr doch wie ein verworrenes, unwahrscheinliches Phantasiegebilde vor, das nur im Kopf einer Frau mit besonders schlechten Nerven entstehen konnte. Aber es war nicht unmöglich! Zu keiner Zeit vorher und nachher, nicht einmal während der atemberaubenden Restauration der Stuarts nach dem Bürgerkrieg, hatte das Verbrechen in London in so hoher Blüte gestanden wie in diesem frühen neunzehnten Jahrhundert, in dem die vernichtende Armut innerhalb der Stadt unbändigen Haß und unhemmbare Angriffslust in den Menschen heraufbeschwor. Täglich wurden wohlhabende Leute überfallen, ausgeraubt und nicht selten dabei niedergestochen. Und jeder konnte das Opfer sein, auch der Earl Locksley.
Schließlich waren die letzten Worte gesprochen, die Schauspieler traten vor den Vorhang und verneigten sich, die Zuschauer spendeten heftigen Applaus. Joanna schob sich an Andrew heran und redete hastig auf ihn ein. An seiner ungläubigen Miene bemerkte Elizabeth, daß sie ihm offenbar von ihren Überlegungen berichtete und damit Argwohn in ihm weckte. Gerade als sie dachte, es könne sich doch wohl kaum um die Bande um John handeln, denn er würde doch nicht ausgerechnet mit Samantha gemeinsame Sache machen, sagte Andrew durch den Beifallstrubel hindurch zu ihr:
»Elizabeth, Joanna hat mir gerade von eurem Gespräch berichtet. Mir erscheint das alles auch etwas merkwürdig. Wir sollten gleich nach Hause gehen.«
Elizabeth wußte, daß sie jetzt handeln mußte, ohne noch lange zu überlegen. Sie machte ein mißmutiges Gesicht.
»Aber ich hatte mich so gefreut, noch etwas zu essen«, sagte sie, »ich möchte den Abend nicht schon beenden. Es ist bestimmt alles in Ordnung.«
Andrew, der sich seines Mißtrauens wegen wohl auch ein wenig schämte, gab zögernd nach. Nebeneinander stiegen sie die breite Freitreppe hinab, verließen vom Strom der Menschen getrieben das festliche Opernhaus und traten hinaus in die eisige Nacht.
6
Sir Wilkins wurden sie natürlich nicht mehr los, denn diesmal hatte er sich fest entschlossen, sich durch keine Widrigkeit des Schicksals abhängen zu lassen. Er begleitete sie in das vornehme ›Tudor Rose Inn‹ am Ufer der Themse, unterhalb der Gärten des ehemaligen Königspalastes Whitehall gelegen, wo sie ein köstliches, mehrgängiges Essen zu sich nahmen und viel Wein tranken.
Andrew schien seine Befürchtungen ganz zu vergessen, denn er unterhielt sich angeregt mit Edward, der außergewöhnlich entspannt wirkte. Joanna war darüber so glücklich, daß sie ebenfalls keine Gedanken mehr an ihre eigenen Überlegungen wandte, und Sir Wilkins und Belinda hatten nur Augen füreinander. So saß Elizabeth allein da und grübelte.
Die Wahrscheinlichkeit, daß an diesem Abend ein Einbruch in ihrem Haus stattgefunden hatte, war groß, aber auf der anderen Seite konnte sie ziemlich sicher damit rechnen, daß in diesem Augenblick bereits alles vorüber war. Macbeth hatte lange gedauert, das Essen ebenfalls, und jetzt mußte es auf Mitternacht zugehen. Trotzdem konnte eine Verzögerung nicht schaden. Auf gar keinen Fall durfte Andrew auf die Diebe treffen. Elizabeth wurde allein bei dem Gedanken daran ganz schwindelig. Sie wußte, wie schnell die Einbrecher ihre Messer und Pistolen zur Hand hatten, wenn sie sich bedroht fühlten. Ihre ganze Lebenseinstellung, das Bewußtsein, daß sie nichts zu verlieren hatten, machte sie zu unberechenbaren, rücksichtslosen Kämpfern. Und ihnen gegenüber Andrew, der vornehme, kultivierte Andrew. Sie wagte sich nicht auszumalen, was daraus entstehen konnte.
Das Essen war beinahe zu Ende, als sich Belinda für einen Moment von Sir Wilkins löste und sich über den Tisch hinüber zu Elizabeth lehnte.
»Hast du mich nicht vorhin nach dem Dienstmädchen gefragt, das mir die Karten von Lady Stanford brachte?« erkundigte sie sich. »Stell dir vor, was mir gerade einfällt: Diese Samantha war Dienstmädchen bei euch, früher, als ihr noch das schöne Haus in London hattet. Du müßtest dich noch an sie erinnern!«
»Was?« fragte Joanna erschrocken. Die Unterhaltung am Tisch verstummte.
»Was ist denn los?« wollte Andrew wissen. Joanna hatte große, unruhige Augen bekommen.
»Samantha«, wiederholte sie, »mein Gott, Elizabeth, erinnerst du
Weitere Kostenlose Bücher