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Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Horizont türmten sich Schneewolken auf, die Möwen jagten mit langgezogenen, warnenden Schreien vom Meer ins Land. Aber John und Elizabeth stapften unverdrossen weiter, legten Meile um Meile zurück, verkauften Schmuck, um in Wirtshäusern übernachten zu können, bettelten darum, von vorbeifahrenden Leiterwagen mitgenommen zu werden, die zwar entsetzlich langsam dahinrumpelten, dafür aber durch die unglaubliche Wohltat entschädigten, die wunden Füße hochlegen und ausruhen zu dürfen. Als sie keinen Schmuck mehr besaßen, den sie verkaufen konnten, übernachteten sie in Scheunen, tief eingewühlt im Heu, und durch die Ritzen der löchrigen Dächer über sich sahen sie den klaren schwarzen Nachthimmel und frosthelle Sterne. Als sie Schloß Sevigny erreichten und es in Besitz nahmen, »gleich einer Heuschreckenplage«, wie Tante Marie Hortense insgeheim anvertraute, besaßen sie buchstäblich nichts mehr, bis auf die zerfetzten Kleider, die sie am Leib trugen, hatten Frostbeulen an den Füßen und Läuse im Haar, aber Elizabeth war glücklich bei dem Gedanken, sich so weit sie nur konnte von der Frau entfernt zu haben, die sie vor jener entsetzlichen Januarnacht gewesen war.
    Für alle Zeiten hatte sich ihr das Bild des sterbenden Soldaten in die Erinnerung gegraben. Was sie in jenen panischen, rasenden Sekunden der Tat nicht wahrgenommen hatte, mußte dennoch tief in ihr Bewußtsein eingesickert sein, denn nach und nach tauchte es aus den Höhlen ihres Gedächtnisses wieder auf und stand ihr in glasklaren Bildern vor Augen: die wächserne Blässe seines Gesichtes und die daraus leuchtenden stark geröteten Wangen, sein Mund, der sich mit dem ersten Schuß leicht öffnete, ohne sofort zu schreien, seine Augen, dunkel und ohne Begreifen auf die Pistole gerichtet, sein Gesichtsausdruck, der in
unfaßbarem Schrecken erstarrte, noch ehe ein Schimmer von Erkennen hatte darüber gehen können. Elizabeth wußte, daß der Mann bis zum letzten Schuß nicht geglaubt hatte, was ihm geschah. Hätte John auf ihn geschossen, dann wäre das etwas anderes gewesen, doch die Waffe in der Hand der Countess mußte ihm unfaßbar vorgekommen sein. Und die gleiche Ungläubigkeit hatte auch auf Joannas Gesicht gelegen. Es wurde Elizabeth viel später erst bewußt, daß sie im letzten Moment, ehe sie sich durch das Fenster hinausschwang, plötzlich gefühlt hatte, wie sie Joanna verlor. Mit dem fremden Soldaten war eine ganze Vergangenheit gestorben. Elizabeth hatte sich verwandelt, viel mehr, als sie zunächst wußte. Die letzte Bindung an ihr früheres Leben zerriß. Was sie immer, all die Jahre lang, noch im Innersten ihres Wesens gewesen war, die Tochter der feudalen Oberschicht Louisianas, die wohlerzogene englische Aristokratin, die mit dem Mann, den sie liebte, wie eine fremde Begleiterin durch die armen und stinkenden Gassen Londons zog, an Galgen vorbei und durch Gefängnisse, durch den ganzen Schmutz und das Gift des frühen neunzehnten Jahrhunderts, das alles fiel von ihr ab und ließ sie einfach und sicher dastehen, in dem Bewußtsein, endlich dort angekommen zu sein, wo sie immer hatte sein wollen: in Johns eigener, mißtrauischer, verzweifelter, gesetzloser Welt. Sie gehörte dazu, und sie mußte in der Nacht, nachdem sie halbtot aus den eisigen Fluten der Themse an Land gekrochen war und, einem Fisch eher gleichend als einem Menschen, einige Augenblicke wild nach Luft ringend auf dem gefrorenen Gras gelegen hatte, immerzu an Johns lässige Worte denken, die er viele Jahre vorher zu ihrer Wut gesagt hatte:
    »Erst wenn du einen Mord begangen hast, meine Liebste, gehörst du wirklich zu uns!«
    Sie hatte ihn begangen. Sie huschten frierend, gehetzt, voller Angst durch die nächtlichen Gassen der Stadt, schleppten sich vom Schatten des einen Hauses in den des nächsten, ständig gewärtig, aus der Dunkelheit die Gestalten von Soldaten auftauchen zu sehen, die sie festhalten oder gleich mit ihren Bajonetten auf sie einstechen würden. John lief vorneweg, er sagte nichts,
aber er schien genau zu wissen, wohin sie mußten. Elizabeth eilte ebenso lautlos hinterher. Ihr schönes langes Musselinkleid klebte naß an ihrem Körper und stank widerlich nach dem Unrat, den die Themse mit sich führte, aber das war nicht so schlimm wie die Kälte. Unablässig betete sie im stillen darum, daß sie endlich ihr Ziel erreichen würden, welches auch immer das sein mochte, und daß es dort ein Feuer und etwas Heißes zu trinken geben

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