Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
man mehr Uniformen als andere Kleidung sah, fühlte sich Joanna von der schier unerträglichen Spannung angesteckt. Sie gewöhnte sich den gleichen raschen Gang an, den auch die anderen Leute auf der Straße hatten, und legte plötzlich wieder viel Wert auf ihre Kleider. Es gab so viele elegante Frauen in Brüssel! Sie trugen tief ausgeschnittene Musselinkleider, die glatt am Körper herabfielen und unter denen zierliche offene Sandalen aus goldgefärbtem Leder hervorsähen. Da sowohl Füße als auch Schultern und Arme der Frauen nackt sein mußten, herrschten selbst jetzt im Juni wahre Epidemien von Erkältungen, was die wahren Damen jedoch tapfer ignorierten. Sie preßten zarte Spitzentaschentücher vor ihre Nasen und hielten sich an den Armen ihrer Männer fest, wenn das Fieber sie schüttelte.
Die Männer ihrerseits liefen in prächtigen Uniformen, in weißen Hosen und hohen glänzenden Reitstiefeln, in blauen, roten oder schneeweißen Jacken mit steifen Kragen und funkelnden Orden an der Brust. Zivilisten waren dazwischen kaum zu entdecken.
Edward und Joanna hatten endlich Unterkunft in einem kleinen Gasthaus gefunden, das in einer stillen Seitengasse stand. Es gehörte kaum zu den vornehmsten Häusern von Brüssel, war aber bequem und wohnlich. Sie bekamen zwei Zimmer im ersten Stock, mit knarrendem Fußboden, Blumen an den niedrigen Fenstern und erfüllt vom Lavendelgeruch frischer Bettwäsche. Außerdem wurden ihnen unten im Haus zwei kleine Kammern für ihre Dienstboten zur Verfügung gestellt. Damit konnten sie bei dem herrschenden Zulauf sehr zufrieden sein. Leider gelang es Belinda, samt ihrer Nachkommenschaft im selben Haus unterzukriechen. Joanna blieb es ein Rätsel, wie Belinda so etwas
immer fertigbekam. Sie konnte im ganzen Haus keinen Schritt mehr tun, ohne über eines der Kinder zu stolpern. Einmal schafften es zwei sogar, über einen Apfelbaum in Joannas Fenster hineinzuklettern, sich im Kleiderschrank zu verstecken und mit lautem Gebrüll hervorzustürzen, als Joanna ahnungslos vor dem Spiegel stand.
Sie erschrak so, daß sie alles fallen ließ, was sie in den Händen hielt, und laut aufschrie. Dann packte sie beide Kinder, öffnete die Tür und stieß sie in den Gang hinaus, wobei eines hinfiel und laut zu schreien begann.
»Verschwindet und laßt euch hier nie wieder blicken!« rief sie ihnen nach. »Ich dreh’ euch den Hals um, das schwöre ich!«
Aufatmend schloß sie die Tür wieder und lehnte sich von innen dagegen. Scheußliche kleine Bälger! Als ob sie nicht so schon genug Sorgen hätte! Sie mußte sich ständig um Edward bemühen, der sich in Brüssel noch abweisender verhielt als in England. Oft verließ er bereits frühmorgens das Gasthaus, streifte den ganzen Tag in der Gegend umher und kam abends erschöpft zurück, ohne genau zu erzählen, wo er gewesen war. Seine Augen waren ausdruckslos in die Ferne gerichtet, und oft schrak er zusammen, wenn er unvermutet angesprochen wurde. Joanna gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß er seelisch krank sein müsse. Sie erinnerte sich schamvoll daran, wie sie und die anderen Mädchen ihn früher immer wegen seiner Weltabgewandtheit und seiner unbeholfenen Scheu geneckt hatten. Ein Mann wie Edward hätte Trafalgar nie erleben dürfen, aber er hätte auch nie eine Frau wie sie haben sollen, das gab Joanna sich selbst gegenüber zu. Sie hatte das Gefühl, selbst ein überempfindsamer Mensch zu sein, der es zu schwer mit sich hatte, um einem anderen schwankenden Menschen zur Seite stehen zu können. Sie mußten sich ja aneinander aufreiben. Aber selbst wenn sie es versuchte, es gelang ihr nicht, ihn zu beschützen. Manchmal überlegte sie, ob es ein Fehler gewesen war, ihn nach Brüssel gehen zu lassen. Statt ihn zu begleiten, hätte sie vielleicht versuchen sollen, ihn von der Reise abzuhalten, zumal sie überhaupt nicht begriff, welchen Sinn es für ihn hatte, sich hier inmitten unabsehbarer
lauernder Gefahren aufzuhalten. Er wirkte so, als warte er sehnsüchtig auf ein vernichtendes Unheil.
Da Joanna fast keinen Einfluß mehr auf ihn hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Zeit mit Belinda zu verbringen. Belinda, die King’s Lynn lange nicht mehr verlassen hatte, stürzte sich in überwältigender Kaufwut in das Gewühl der Stadt und erstand Berge von Stoffen, Schuhen und Schmuck. Ihre Zeit verbrachte sie vor allem bei den Anproben der teuersten Brüsseler Schneider. Sie fand die neue schmale, durchsichtige Mode
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