Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
den Abend des 15. Juni hatte nämlich die Herzogin von Richmond, die derzeit in Brüssel ein glänzendes gesellschaftliches Leben führte und in deren Haus die höchstrangigen Gäste ein und aus gingen, zum Ball eingeladen. Die Herzogin mußte auf irgendeine Weise herausbekommen haben, daß Lord Gallimore und seine Frau sich in Brüssel aufhielten, denn auch an sie war eine Einladung ergangen. Natürlich würden auch Sir Wilkins und Belinda dasein. Joanna bedauerte insgeheim, wie völlig unwahrscheinlich das Erscheinen von Elizabeth bei dem Fest war. Sie wußte, daß die Freundin nahe bei Ligny wohnte, aber sie wagte in der augenblicklichen gefährlichen Lage keine Reise dorthin. Und wenn sie es genau überlegte, hätte sie sich vor einer Begegnung auch gefürchtet.
Zweifellos war der Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel das glanzvollste Ereignis der Saison. Prinzen und Prinzessinnen, Herzöge, Grafen, Diplomaten, Botschafter, Offiziere und die reichsten und schönsten Frauen der Stadt tanzten im Ballsaal zu den Klängen einer Militärkapelle, bewegten sich im Walzerschritt auf spiegelblankem Marmorfußboden zwischen Blumengirlanden, Kerzen und Kristalleuchtern. Dreihundert Gäste
hatte die Herzogin geladen, und es schien so, als hätte jeder der Einladung Folge geleistet. Zwischen zahllosen bunten, ordenblitzenden Uniformen konnte man die prächtigen Rüschenhemden und die mit farbigen Seidenfäden und Perlen bestickten Westen der Zivilisten und die leuchtenden Gewänder der Frauen sehen.
Veilchenparfüm war gerade Mode, daher roch der ganze Saal nach Veilchen, gemischt mit dem Duft von Champagner, Rosen und erlesenem Tabak. Musik, Gelächter, Kleider und Schmuck waren so strahlend und auffällig, als finde hier an diesem Abend der Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens in Brüssel statt, aber als strebe gleichzeitig auch die verhaltene Unruhe und schon unerträglich gewordene Spannung ihrem Ausbruch eiliger entgegen als zuvor.
Am frühen Morgen dieses Tages hatte Napoleon Bonaparte mit seiner Armee die Grenze Belgiens überschritten, vollkommen überraschend für die Alliierten. Die Nachricht hatte Wellington mittags um drei erreicht, nachdem er noch einen Tag zuvor in völligem Einverständnis mit seinen Generälen erklärt hatte, »Boney«, wie sie ihn spöttisch nannten, würde es niemals im Leben wagen, Paris zu verlassen, sondern sich vielmehr dort verbarrikadieren und den Angriff seiner Feinde abwarten. Zu dem Zeitpunkt, da diese Ansicht noch von jedermann in Belgien geteilt wurde, hatte Napoleon bereits heimlich und unbemerkt mit seinen Soldaten die französische Hauptstadt verlassen, so schnell, überraschend und leise, daß sein Aufbruch tatsächlich den Verbündeten völlig entging. Der ehemalige Kaiser Frankreichs hatte erkannt, daß er Paris gegen eine solche Übermacht von Gegnern nie würde halten können und daß seine einzige Chance darin bestand, so schnell zuzuschlagen, daß die andere Seite keine Zeit fand, das zu begreifen. Außerdem wußte er, daß es ihm gelingen mußte, sich zwischen die Armeen Blüchers und Wellingtons zu schieben, eine Vereinigung zu verhindern und jede von ihnen einzeln zu bekämpfen, und das möglichst noch, bevor Russen und Österreicher herankommen konnten. Seine Aussichten waren gering, aber er zog los mit dem Mut dessen,
der nichts zu verlieren hat, und von einer Verzweiflung getrieben, die zur Tollkühnheit verführte.
Obwohl sie das alles jetzt genau wußten, waren Wellington und seine gesamte Generalität auf dem Ball erschienen und bildeten einen so strahlenden Mittelpunkt des Festes, daß jeder hätte meinen können, für sie gebe es in diesen Stunden überhaupt keine Sorge auf der Welt. Sie plauderten charmant und unbefangen und tanzten fast die ganze Zeit. Es fiel nur auf, daß sie kaum etwas tranken, obwohl erlesener Champagner angeboten wurde. Die meisten Offiziere schienen sich eher in einen Rausch von Tanz, Gelächter und Musik zu steigern. Die wenigsten Gäste erkannten hinter ihren lachenden Gesichtern und glänzenden Augen die Angst, die sie zu verbergen suchten, die Furcht vor einem Kampf, von dem sie ahnten, daß er mit äußerster Kraft geführt werden würde.
Sie alle kannten Napoleons glanzvolle Zeiten, seinen Siegeszug durch Europa, die Rücksichtslosigkeit, mit der er angriff, eroberte und unterwarf. Sie wußten, daß Bonaparte eher sich, seine Armee und seine Feinde zum Teufel gehen lassen würde, als auf den letzten Versuch,
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