Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
der Tod endlich eintrat. Noch nie hatte ein Verurteilter so zäh und verzweifelt um sein Leben gekämpft, ganz London sprach noch tagelang davon.
Da befanden sich Elizabeth und John bereits auf dem beschwerlichen Weg nach Oak’s Bridges, einem verborgenen Nest an der Ostküste, von dem John wußte, daß dort nachts Schiffe mit verbotener Fracht und zweifelhaften Passagieren an Bord ablegten. Wochen später erreichten sie dann Schloß Sevigny, von wo aus sie die wilden Jahre der letzten Napoleonischen Siege, der Befreiungskriege und den Untergang des Eroberers miterlebten. Ohne daß es ihr Leben berührt hätte, hörten sie von einer Kapitulation der Franzosen nach der anderen, in Dresden, Stettin, Danzig, Torgau und Wittenberg. Sie vernahmen die Nachrichten von den großen letzten Schlachten, von La Rothiere, Montmirail, Chäteau-Thierry, Caronne, Reims und vielen anderen, bis zur Schlacht bei Paris, dem Einzug der Verbündeten in die französische Hauptstadt, dem Waffenstillstand und schließlich der Abdankung des Kaisers am 4. April 1814. Die Kämpfe in Oberitalien und Südfrankreich endeten, die Franzosen kapitulierten in den letzten besetzten Festungen. Napoleon hatte sich unterdessen von seiner Garde in Fontainebleau verabschiedet und sich nach Elba eingeschifft, und endlich, am 30. Mai 1814, wurde der Friede von Paris geschlossen.
Elizabeth und John schreckten erst wieder auf, als an einem Frühlingsmorgen 1815 Tante Marie an ihre Zimmertür pochte, um ihnen mit verkniffenem Gesicht die Nachricht zu bringen, die sie soeben von ihrem Diener erfahren hatte: daß Napoleon Bonaparte auf dem Marsch nach Paris sei. »Das gibt noch ein Unglück«, prophezeite Marie nachdrücklich, »ich habe kein gutes Gefühl!«
Diesem Ausspruch mußte einige Bedeutung beigemessen werden, denn Tante Marie nahm vom Weltgeschehen für gewöhnlich keine Notiz und hielt Schloß Sevigny für den sichersten Ort der Erde. Aber obwohl die düstere Miene der alten Frau sie ebenfalls im ersten Moment erschreckte, hielt Elizabeth, die an diesem kühlen Morgen noch verschlafen im Bett lag, Paris für sehr weit weg und Bonapartes Torheiten für wenig bedeutsam. Mochte er seine Schlachten austragen, wo er wollte, es war doch äußerst unwahrscheinlich, daß er es hier tun würde, auf den grünen
Wiesen um Brüssel, zwischen all den kleinen, friedlichen Dörfern der Umgebung, in denen brabantische Bauern seit Jahrhunderten nur ihrem Ackerbau nachgingen, zwischen Quatre Bras, Waterloo und Ligny.
3
Edward und Joanna gelangten auf viel bequemere Art auf den Kontinent als John und Elizabeth neun Jahre zuvor, wenn sie auch bei ihrer Ankunft in Brüssel das Gefühl hatten, Belindas Kinder hätten ihnen alle Nerven zerrüttet. Es stellte sich als schwierig heraus, ein Zimmer zu finden, denn Brüssel quoll in diesen Tagen förmlich über von Menschen. Prinzen, Fürsten, Diplomaten und Offiziere bevölkerten die Stadt, und die meisten hatten ihre Frauen oder sogar ihre Kinder bei sich. Alle Straßen, Gassen und Häuser schienen voll geheimer, schwelender Erregung, als hätten sich Abgesandte aller Nationen versammelt, um auf ein glanzvolles Ereignis zu warten. Jeder wußte, daß es zu einem Kampf kommen mußte, und jeder ahnte, daß es der letzte Kampf gegen Napoleon sein würde. Wohin Joanna auch kam, ob sie einkaufen ging oder einfach nur durch die belebten Straßen der Stadt bummelte, überall sprachen die Leute von der armseligen Armee Bonapartes. Seine Armee zählte 300 000 Mann, die meisten davon sollten ungenügend ausgebildet sein, und es fehlte ihnen angeblich an Uniformen und Waffen. In Belgien hingegen standen 120000 preußische Soldaten unter Feldmarschall Blücher sowie eine Armee von 93 000 Soldaten unter Wellington bereit. Dazu kamen die österreichischen und russischen Armeen, die sich noch auf dem Weg nach Belgien befanden. Insgesamt schätzten die Leute die Stärke der Verbündeten auf 582 000 Soldaten. Joanna schwindelte es, wenn sie diese Zahlen hörte. Vor ihren Augen hatte sie ständig das Bild eines unüberschaubar weiten
Schlachtfeldes, über dem feiner Pulverrauch schwebte und auf dessen Wiesen Hunderttausende von verwundeten und toten Soldaten lagen, dazwischen verletzte Pferde und schwarze Kanonen. Die Vorstellung von einem Kampf wurde hier mit einemmal sehr deutlich und bedrückend. In England, in Foamcrest Manor, waren die Geschehnisse auf dem Kontinent noch sehr unwirklich gewesen, in dieser pulsierenden Stadt, in der
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