Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege

Titel: Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
seit Nächten ohne Schlaf, verpaßte den Abzug der Preußen, weil er im Schloß von Fleurus in tiefer Erschöpfung schlief. In den frühen Mittagsstunden, als er aus seinem fiebrigen Schlummer erwachte, ordnete er hastig die Verfolgung an. Inzwischen regnete es tatsächlich, die Wege verschlammten, so daß Wagen und Kanonen steckenblieben und viele Pferde ausrutschten und hinfielen. Eine untergründige Ahnung mochte dem nervösen Napoleon sagen, daß die Möglichkeit bestand, Blüchers geschlagenes Heer werde die Verbindung mit den englischen Truppen suchen, aber Erschöpfung, Angst und völlige Überanstrengung verboten ihm, daran zu glauben. Er klammerte sich an den Gedanken, Blücher ziehe sich nach Lüttich zurück, und beging damit den folgenschwersten Irrtum seines Lebens.
    Die Armeen hinterließen ein verwüstetes Tal, in dem sich ganz langsam und beinahe behutsam neues Leben regte. Ligny und St. Amand waren zum größten Teil zerstört worden, von La Haye war nahezu nichts übriggeblieben, viele Bauernhöfe lagen in Schutt und Asche. Die meisten Bewohner hatten in weit abgelegenen Dörfern Zuflucht gesucht und kehrten jetzt zurück. Manche, die ohne Hab und Gut dastanden und kein Dach über dem Kopf mehr hatten, suchten Hilfe in Schloß Sevigny. Sie langten wie eine Schar abgerissener Bettler dort an, blaß, hohläugig, zitternd vor Furcht und Müdigkeit. Sie wurden eingelassen, obwohl kaum noch Platz im Haus war, aber sie brauchten auch nicht viel Raum, sondern kauerten sich meist stumm in die hintersten Ecken. Nur die Kinder weinten, schrien und bettelten um Eßbares. In der Küche gab es nichts mehr, aber unten im Keller fanden sie einen verborgenen Vorratsraum, der der Zerstörung entgangen war. Sie schleppten Schinken, Eier, Brot und Milch hinauf, und Paulette teilte streng bemessene Rationen aus. Sie wußten alle, daß ihnen entbehrungsreiche Zeiten bevorstanden, denn auf den verwüsteten Feldern würde in diesem Sommer keine Ernte heranreifen. Man würde viel Geld brauchen, um Nahrungsmittel von weither kommen zu lassen. Die Sevignys
besaßen Geld, aber die Bauern wußten, daß für sie selbst die Zeit der Verluste und des Überlebenskampfes noch keineswegs ihr Ende gefunden hatte.
    Im Schloß waren viele Verwundete zurückgeblieben, in der Hauptsache Preußen, denn die Franzosen hatten einige ihrer Leute trotz des überstürzten Aufbruchs auf provisorischen Tragbahren mitgenommen. Diejenigen, die einen Transport nicht überstanden hätten, vertrauten sie Elizabeth an, die sich bei dem Anblick völlig gemischt durcheinanderliegender Preußen und Franzosen kopfschüttelnd fragte, wie es nur Kriege geben konnte. Diese Männer waren noch einen Tag zuvor mit Waffen aufeinander losgestürzt; heute teilten sie Wasser und Brot und bewegten sich rücksichtsvoll, um einander nicht weh zu tun.
    Am Nachmittag zwang Hortense Elizabeth und John sowie die Dienstboten, trotz des strömenden Regens an einer Trauerfeier am Grab von Tante Marie teilzunehmen. Obwohl Elizabeth vor Ungeduld vibrierte, weil sie wußte, daß es Wichtigeres zu tun gab, konnte sie der schmerzerstarrten Hortense diesen Wunsch nicht abschlagen.
    Wundersamerweise, aber auch makaber anzusehen, war der Familienfriedhof als einzige Ecke des Parks einigermaßen unversehrt geblieben. Teile der ihn umgebenden alten Steinmauer waren geborsten, Granaten hatten Löcher in die Wege gerissen, und die uralte Trauerweide, in deren Schatten Generationen von Sevignys schliefen, hatte einige Zweige verloren. Die Gräber selbst lagen unberührt da, wie all die Jahrzehnte zuvor. John, Elizabeth, Hortense, Paulette und Jerome standen in ehrfürchtiger Stille um das frischgeschaufelte Grab in der äußersten Ecke des Friedhofs und beteten leise. Zumindest tat jeder so, aber Elizabeth vermutete, daß Hortense als einzige wirklich Zwiesprache mit der Toten hielt. Sie selbst konnte sich nicht helfen, es war ihr unmöglich, jetzt schon, noch ganz im Bann der Ereignisse, zu Gott zu beten.
    Hortense trug einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht, wie das in ihrer Familie bei Trauerfeierlichkeiten von jeher üblich gewesen war. Es hatte sie einige Mühe gekostet, ein geeignetes
Stück Spitze dafür zu finden, denn jedes brauchbare Stück Stoff im Schloß war längst als Verbandszeug genutzt worden. Aber mit viel Geduld hatte Hortense den ganzen Vormittag über schmale dunkle Spitzenbesätze von einem alten Kleid getrennt und in einer langwierigen Arbeit zu einem breiten

Weitere Kostenlose Bücher