Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
fühlte sich plötzlich schrecklich verloren und war zum ersten Mal auf dieser Reise für die Gegenwart der geschwätzigen Frau dankbar, die ihren Arm ergriff und sie besorgt anblickte.
»Wo wollen Sie denn jetzt hin, Kind?« fragte sie. »Haben Sie Verwandte in London?«
»Nein...« Natürlich gab es Cynthia, aber Gott wußte, wo sie in dieser riesigen Stadt lebte.
»Ich hoffte, daß ich noch eine Möglichkeit finden würde, heute nacht weiterzufahren«, setzte sie scheu hinzu. Die Frau verzog das Gesicht.
»Das wird schwierig sein«, meinte sie. »Lieber Himmel, ich muß wirklich sagen, meine Tochter dürfte nicht so alleine durch die Welt reisen wie Sie. Auf so junge Mädchen lauern doch schreckliche Gefahren überall!«
Dann sah sie wieder in das blasse, müde Gesicht und beruhigte sich.
»Ich frage mal den Kutscher«, versprach sie. Tatsächlich stellte sich heraus, daß am selben Platz etwas später eine Kutsche eintreffen würde, die nach Devon fuhr. Elizabeth weinte fast vor Erleichterung. Sie verabschiedete sich von ihrer Begleiterin, setzte sich in einen Hauseingang auf eine Treppenstufe, die Beine eng an den Körper gezogen, und wartete. Zum Glück herrschte hier Ruhe, der Platz war nur von dunklen, schweigenden Häusern umstellt, und nirgends rührte sich etwas.
Wenn irgend jemand kommt und mich anspricht, dann schreie ich so laut, daß sämtliche Bewohner ringsum aus den Betten fallen, nahm sich Elizabeth vor. Sie lauschte ängstlich auf jedes Geräusch, konnte aber nichts hören. Sie sehnte sich zutiefst nach Heron Hall, nach ihrem gemütlichen Bett, nach der Sicherheit, die ihr Phillip und Harriet gegeben hatten. Und nach Joanna! Wenn doch wenigstens sie hier wäre! Ihr Gesicht tauchte vor Elizabeths halbgeschlossenen Augen auf. Mit einem Ruck zwang sie sich zur Aufmerksamkeit. Eben wäre sie beinahe eingeschlafen.
Im Osten zeigte sich schon das erste Licht des Morgens, als endlich die angekündigte Kutsche eintraf. Sie brachte ein paar Bauersleute, die früh in die Stadt wollten, um Milch und Eier zu verkaufen, und die fast alle ausstiegen. Nur ein Mann in eleganter Kleidung blieb sitzen. Elizabeth zahlte das geforderte Fahrgeld, kuschelte sich in eine Ecke und schlief noch im selben Moment tief und fest ein. Weder das Schaukeln des Gefährts noch die immer heißer werdende Sonne, noch das Hinzusteigen anderer Fahrgäste konnte sie wecken. Sie wachte erst auf, als jemand sie an den Schultern rüttelte. Mühevoll setzte sie sich auf.
»Was ist?« fragte sie. Der elegante Mann stand vor ihr.
»Sie haben den ganzen Tag geschlafen«, erklärte er, »inzwischen ist es Abend. Wir fahren erst morgen weiter.«
»Ja, um Gottes willen, wo sind wir denn?«
»Schon ein ganzes Stück westlich von London. An einem Wirtshaus mitten in der Wildnis!«
»Heißt das, ich muß hier übernachten?«
»Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig!«
Elizabeth seufzte. Bisher waren an jedem Abend die Pferde gewechselt worden, oder ein anderer Kutscher hatte den Wagen übernommen. In den hellen Sommernächten war es möglich, nachts zu fahren. Aber jetzt - allein in einem Wirtshaus übernachten! Harriet fiele in Ohnmacht, wenn sie das erführe, und Miss Brande wäre einfach sprachlos. Dieser letzte Gedanke heiterte Elizabeth etwas auf, sie nahm allen Mut zusammen und betrat die wenig einladende Herberge. Der Wirt musterte sie neugierig.
Erst als sie bezahlt hatte, wurde er beflissener und führte sie sogar selbst zu ihrem Zimmer hinauf. Elizabeth verbarg mühsam ihren Schrecken, als sie den winzigen, verwahrlosten Raum erblickte, in dem sich außer einem schiefen Eisenbett, einem mottenzerfressenen Teppich und einer schmutzigen Waschschüssel keine Einrichtung befand. Sie hätte gerne mindestens die Hälfte ihres Geldes zurückverlangt, aber natürlich fehlte ihr dazu der Mut. »Vielen Dank«, sagte sie zu dem Wirt, der sie sofort fragte, ob sie noch herunter kommen und etwas essen wolle.
»Wir können Ihnen natürlich auch etwas hinaufbringen«, meinte er.
»Nein, ich möchte schlafen, ich bin sehr müde. Gute Nacht!«
Als er gegangen war, verriegelte Elizabeth als erstes die Tür, öffnete dann das Fenster, um die warme Nachtluft einzulassen, und besah sich in dem trüben, zerkratzten Spiegel über der Waschschüssel. Das Bild machte sie wütend. Wie ein kleines Mädchen sah sie aus, blaß, großäugig, staubbedeckt und zerdrückt. Und wenn sie doch bloß nicht so dick wäre! Als John sie vor zwei Jahren zuletzt
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