Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
gesehen hatte, war sie noch das zarte Kind gewesen. Unglaublich, wie rasch ein Mensch sich verändern konnte! Vielleicht würde John sie so gar nicht wiedererkennen.
Elizabeth schlief nur schlecht in dieser Nacht. Sie hatte große Angst, die Abfahrt der Kutsche am nächsten Morgen zu versäumen, und schreckte daher beim kleinsten Geräusch, das sie hörte, auf. Sie hörte immer wieder Mäuse über den Fußboden huschen, und einmal krabbelte eine Spinne dicht an ihrem Kopf vorbei. Sie atmete erleichtert auf, als es draußen endlich hell wurde und sie aufstehen konnte. Sie wusch sich gründlich, zog ihr blaues Kleid an, das so eng war, daß sie kaum atmen konnte, und entwirrte ihre struppigen Haare. Sie betrachtete sich mit allem nur denkbaren Wohlwollen und kam zu dem Ergebnis, selten unvorteilhafter ausgesehen zu haben. Müde tappte sie die Treppe hinunter und bekam von dem unausgeschlafenen Wirt ein lieblos zubereitetes Frühstück vorgesetzt. Noch während sie aß, fühlte sie sich so trostlos und verlassen, daß ihr die Tränen in die Augen stiegen
und sie eine größere Blamage nur dadurch verhindern konnte, daß sie blitzschnell den Becher an den Mund setzte und in großen Zügen den ganzen Tee austrank. Danach ging es ihr ein klein bißchen besser. Sie begab sich hinaus, wo der Kutscher gerade die Pferde anspannte und die Reisenden zusammenrief.
Sie kamen gut voran und überquerten zwei Tage später an einem frühen Abend die Grenze nach Devon. Elizabeth wurde sehr aufgeregt. Jeden Augenblick konnten sie Taunton erreichen, und dort mußte sie dann die Kutsche verlassen und sich zu Fuß weiter durchschlagen. Sie hatte nur noch eine ganz schwache Vorstellung davon, wo Blackhill lag, aber vielleicht traf sie unterwegs Leute, die sie nach dem Weg fragen konnte. Ihre Ungeduld wurde immer heftiger, gleichzeitig stieg auch ihre Angst davor, daß John gar nicht dasein könnte. Er war so viel auf Reisen, es konnte leicht sein, daß er sich in London herumtrieb. Als endlich die ersten Häuser von Taunton vor ihren Augen auftauchten, seufzte sie erleichtert. Nicht mehr lange, und sie hatte Gewißheit.
Auf dem Marktplatz von Taunton verabschiedete sich Elizabeth von den übrigen Mitreisenden. Sie kam sich mit einem Mal sehr erwachsen vor, wie sie hier stand, viele Meilen von zu Hause entfernt. Mutig sprach sie sogleich eine vorübergehende Bauersfrau an.
»Ach, entschuldigen Sie, können Sie mir bitte sagen, wie ich nach Blackhill komme? Dem Gut von Lord Carmody?«
Die Bäuerin sah sie etwas mißtrauisch an.
»Ja, ja, das wird Ihnen hier jeder sagen können«, meinte sie, »Blackhill ist bekannt. Und Lord Carmody auch.«
»Wirklich?«
»Sollte Sie wohl nicht so überraschen, oder?«
»Ich verstehe nicht...«
»Liebe Güte, Sie sind doch noch fast ein Kind! Wollen Sie wirklich in diese Lasterhöhle?«
»Ich will zu John Carmody.«
»Na, das ist Ihre Sache. Gut, also passen Sie auf!«
Die Frau beschrieb mit wenigen Worten den Weg, Elizabeth dankte und entfernte sich rasch. Sie spürte genau, daß die Blicke
der Alten ihr folgten, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie wußte längst, daß John selten Vertrauen und Sympathie der soliden Bürger genoß. Immerhin schien er sich mit einiger Sicherheit in der Gegend aufzuhalten.
Es dauerte nicht lange, und Elizabeth erkannte den Weg von selbst wieder. Hier überall war sie mit Joanna tagelang herumgestreift. Diesen Bach mußte sie überqueren, dort über die Wiese und dann in den Wald hinein, dem Weg folgend, der sich steil nach oben wand. Hier war es schön schattig und kühl, anders als in der prallen Sonne, die zwar schon recht schräg stand, aber immer noch heiß brannte. Elizabeth legte nur eine einzige kurze Rast ein, so lange, bis sich ihr keuchender Atem ein wenig beruhigt hatte. Dann lief sie weiter, von wachsender Freude vorangetrieben. Endlich erreichte sie die letzte Biegung, und vor ihr, auf dem Gipfel des Hügels, rötlich angeleuchtet von der untergehenden Sonne, lag Blackhill, heruntergekommen, verwittert, von Wildnis überwuchert, aber ruhig wie eine Insel, schön wie ein Palast und zärtlich in seiner verwahrlosten Unvollkommenheit. Das Gras stand so hoch wie eh und je, die Disteln wuchsen ungehemmt an den Mauern entlang, und die breiten Kronen der Bäume schlangen sich ineinander. Vom Dachgiebel erhoben sich kreischend Vögel, sie flatterten davon in den blaugrauen Himmel hinein, den Frieden verstärkend, der über dem ganzen Anwesen lag.
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