Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Und wenn sie diesen John wiedersieht, vergißt sie mich ganz.
»Aber denke nur«, sagte sie lustig, »was wir alles tun könnten! Im Park spazierengehen oder nach Hunstanton fahren und das Meer ansehen...«
»Ja, das wäre hübsch. Aber dennoch - London ist einfach zu schön!« Elizabeth sah schon wieder zum Fenster hinaus und lächelte gleich darauf, denn auf der Straße schlenderte ein fremder Mann vorüber, sah zu ihr hinauf, zog seinen hohen Zylinder und verneigte sich tief.
»Wirklich«, wiederholte Elizabeth, »London ist zu schön!«
3
Es war seit vielen Jahren üblich, daß Lord und Lady Aylesham jeden Oktober einen großen Empfang in ihrem Londoner Haus gaben, gleichsam als Auftakt und Einstimmung der Wintersaison. Die halbe Stadt fieberte immer schon Wochen vorher dem glanzvollen Ereignis entgegen, denn es galt als besondere Ehre, dort eingeladen zu werden, gleichzeitig auch als sicheres Zeichen schwindenden Ansehens, wenn keine Einladung erfolgte. Die Gästeliste reichte von den skrupellosesten Geschäftemachern bis zu den beliebtesten Mätressen, von Wucherern über die wildesten Protze bis hin zu frisch entlassenen Gefängnisinsassen. Dazwischen tummelten sich die ehrbaren Leute, für die es eine Frage des Prestiges war, möglichst viele Mitglieder der Londoner Halbwelt persönlich zu kennen.
In der Familie Sheridy hatte jeder angenommen, daß der Empfang wegen Anthonys augenblicklicher Lage nicht stattfinden würde, aber zur größten Überraschung aller erhielten Joanna und Elizabeth eines Tages eine Einladung. Cynthia hatte sie selbst unterschrieben und hinzugefügt: »Solange nichts geschieht, tun wir so, als sei alles in Ordnung. Ich würde mich freuen, wenn ihr kämt!«
Harriet war nicht begeistert, als sie davon erfuhr.
»Ihr trefft dort keine anständigen Menschen«, meinte sie, »nur solche wie Anthony Aylesham.«
»Aber Ihre Freundin Lady Viola geht auch hin!«
Harriet hielt seit Cynthias letztem Besuch nicht mehr viel von Lady Viola, aber davon mochte sie nicht sprechen. Sie gab schließlich ihre Erlaubnis, weil Joanna sie überzeugen konnte, daß es Cynthia helfen würde, wenn sich die Familie in der Öffentlichkeit so normal wie möglich benahm.
In höchster Eile mußten Ballkleider geschneidert werden, wobei es zum erstenmal nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen Harriet und den Mädchen über die Frage kam, ob sie Reifröcke tragen sollten oder nicht. Niemand in England trug mehr ein solches Ungetüm, aber bei Hofe, wo noch strenge Bekleidungsvorschriften herrschten, waren nur Reifröcke erlaubt. Harriet hielt alles, was vom St.-James-Palast kam, für ein Gottesgebot, weswegen sie sich den Palastgesetzen auch im Alltag unterwarf. Angesichts der schwierigen finanziellen Lage ihrer Familie gab sie aber diesmal nach. Es leuchtete auch ihr ein, daß natürlich fallende Kleider längst nicht so viel Stoff benötigten und daher wesentlich billiger waren.
Am Abend des Festes war Joanna entgegen ihrer sonstigen Art viel nervöser als Elizabeth. Sie konnte beinahe nicht stillhalten, während Edna ihre Haare zu langen Locken kämmte.
»Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst, Elizabeth«, jammerte sie. »Denk nur an die vielen Leute, die kommen! Und wir kennen niemanden!«
»Wir kennen aber doch Cynthia und Anthony und Lady Viola. Und es werden nicht nur Halunken dasein, so viele gibt es gar nicht.«
»Nein, da hast du wohl recht. Aber mir ist ganz schlecht vor Aufregung.« «
Beide verzichteten auf ihr Abendessen und drängten darauf, endlich loszufahren. Harriet gab ihnen tausend Ermahnungen mit auf den Weg, wobei sie aussah, als bereue sie es zutiefst, ihre Zustimmung zu diesem Abenteuer gegeben zu haben. Elizabeth atmete erleichtert auf, als sie in der Kutsche saßen, denn bis zuletzt hatte sie gefürchtet, Harriet werde sich alles anders überlegen.
Die Kutsche ratterte mit hoher Geschwindigkeit durch die nächtlichen Straßen. Alles schien ausgestorben und menschenleer, doch als sie schließlich in die Straße einbogen, in der Cynthias Haus stand, wimmelte es plötzlich überall von Kutschen, Menschen und Pferden. Das Fluchen der Kutscher hallte von den Häusern wider, dazwischen erklangen Gelächter und Rufe, Schmuck klirrte, im Licht der Laternen schimmerten Seidenkleider und Pelze. Die reichsten Leute Englands trafen sich hier, und niemand scheute sich, seinen Reichtum so protzig wie möglich zur Schau zu stellen. Zudem versuchte jeder, gleich aus der ersten
Weitere Kostenlose Bücher