Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
Es ist wahr, dachte sie, wir haben sehr üppig gelebt. Und keiner von uns hat je darüber nachgedacht, woher das Geld dafür kam.
»Wir können«, fuhr Harriet fort, »auf keinen Fall so weiterleben wie bisher. Wir sind nicht am Ende, aber wir haben keine Sicherheiten mehr.«
»O Gott«, murmelte Joanna. Alle drei schwiegen, nichts war zu hören als das Gelächter eines Betrunkenen auf der Straße. Im Kerzenschein warfen alle Gegenstände im Zimmer groteske Schatten an die Wände, höhlten Harriets Gesicht seltsam aus, so daß ihre Augen zurückliegend und ihre Wangen eingefallen schienen. Joanna betrachtete die vertrauten Züge und kämpfte mit dem plötzlichen Wunsch, aufzustehen und ihre Mutter in den Arm zu nehmen, aber merkwürdigerweise scheute sie in Elizabeths Gegenwart davor zurück. Sie hatte noch nie vorher das Gefühl gehabt, daß sie und Harriet eine Einheit bildeten, die Elizabeth ausschloß. Heute befiel sie dieser Gedanke, als seien sie und ihre Mutter durch den toten Phillip im Augenblick von dessen Niederlage verbunden. Und sie dachte: Neben dem Verlust
von Geld und Ansehen ist es Vaters Schwäche, die Mutter quält. Er hat sich nicht als der Held erwiesen, der er für sie immer gewesen ist. Er stirbt, und wir bleiben nahezu mittellos zurück, wie eine beliebige Bürgersfamilie!
»Was werden wir nun tun?« fragte sie. Harriets Schultern strafften sich ein wenig.
»Mr. Elmwood wird für uns dieses Haus verkaufen«, sagte sie, »und wir gehen nach Norfolk zurück.« Ihre Augen bekamen neuen Glanz. »Nach Heron Hall. Wir gehen endlich dorthin, wohin wir gehören. Ich habe London gehaßt von dem Moment an, als Phillip hier starb.«
Joanna nahm ihre Hand.
»Ich freue mich«, sagte sie weich, »wir werden glücklich sein in Heron Hall. Das findest du doch auch, Elizabeth?«
»Ja«, erwiderte Elizabeth gepreßt, »wann brechen wir denn auf?«
»Es muß hier so vieles in Ordnung gebracht werden. In zwei Monaten vielleicht.«
»Wir werden dann überhaupt keinen Wohnsitz in London mehr haben«, meinte Elizabeth betrübt.
»Doch. Cynthia...« Joanna brach erschrocken ab, aber Harriet hatte sie noch gehört.
»Cynthia auch nicht mehr«, murmelte sie. »Ach, es ist immer so im Leben, auch wenn man es vorher nie für möglich hält: wenn der Untergang kommen soll, dann geschehen alle Schrecknisse auf einmal. Glück und Unglück teilen sich nie gleichmäßig auf!«
»Aber Mutter, wir sind nicht am Untergehen!«
»Ich glaube doch«, entgegnete Harriet.
Später, als sie gegangen war, trat Joanna vorsichtig zu Elizabeth, die am Fenster lehnte und hinaus in die Dunkelheit starrte. Ihr Gesicht trug einen finsteren Ausdruck. Sie zuckte zusammen, als Joanna ihr Haar berührte.
»Was ist?« fragte sie unwillig.
»Du bist traurig, Elizabeth. Wegen des Geldes?«
»Nein, Unsinn! Ich bin traurig, weil wir fortgehen von London,
und das auch noch für immer. Du weißt, daß ich Heron Hall liebe, aber im Moment würde ich so gern mein Leben genießen! «
»Das kannst du in Norfolk auch!«
»Ja, das Meer, das Land, ich weiß! Aber ich will etwas anderes. Ich will viele Menschen kennenlernen!«
»Menschen? Männer!«
»Ja, gut, Männer«, gab Elizabeth heftig zu, »Männer auch. Aber vor allen Dingen will ich da sein, wo die Dinge ihren Ursprung haben und etwas geschieht. Wo die Leute zusammenkommen, wo Arme und Reiche, Bürger und Arbeiter und Adelige durcheinanderlaufen. Und das gibt es nur in London!«
»Da hast du recht.«
»Und außerdem hoffe ich immer noch, John eines Tages hier wiederzutreffen. Ich weiß sogar, daß ich ihn hier wiedersehen werde. Es gibt keinen Ort sonst auf der Welt, von dem ich so sicher sein kann, daß John dort immer wieder auftauchen wird.«
Joanna lächelte.
»Aber Elizabeth! Du hast ihn vor vier Jahren zuletzt gesehen. Du weißt doch gar nicht, ob du noch dasselbe empfindest!«
»Gerade das«, sagte Elizabeth, »möchte ich herausfinden. Wenn ich ihn noch genauso liebe wie früher, dann könnte ich vielleicht den albernen Schwur einlösen, den ich mir einmal gab: eines Tages schön zu sein und ihn zu gewinnen! Und wenn nicht, ach, dann wäre es trotzdem schön, in London zu sein und einfach in den Tag hineinzuleben!«
»In Heron Hall bist du aber mit mir zusammen.«
»Ja, aber es wäre noch schöner, mit dir in London zusammenzusein...«
Joanna sah in das lebhafte, lachende Gesicht vor ihr und dachte: Es ist ihr gleichgültig. Ob mit mir oder ohne mich, sie will London.
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