Verbotene Wege - Link, C: Verbotene Wege
nur wegen John. Anthony weiß vor Angst ja nicht mehr, wo oben und unten ist!
Die Treppe endete schließlich an einer schmalen Holztür, durch die sie in eine große Küche kamen. Hier sah es unglaublich unordentlich aus, wie immer bei großen Festen. Teller, Gläser und Schüsseln mit angeklebten, fast schon vertrockneten Speiseresten standen herum, aus dem Ofen drang Qualm. Aber es hielt sich erstaunlicherweise kein Mensch hier auf. Offenbar waren auch sämtliche Küchenmädchen hinaufgeeilt, um an der eigentlichen Sensation des Abends teilzunehmen.
John, der als letzter kam, verriegelte sorgfältig die Tür hinter sich.
»Und nun«, wandte er sich an Anthony, »wo ist hier ein Ausgang ins Freie?«
»Hier!« Anthony wies auf eine weitere Tür. »Sie führt nach draußen. Aber wenn dort Soldaten sind...«
»Das müssen wir riskieren. Hier unten sitzen wir völlig in der Falle!« Er übernahm die Führung, und die anderen schlichen atemlos hinterher. Draußen herrschten vollkommene Stille und Dunkelheit. Klare, kalte Luft schlug ihnen entgegen, hoch oben wölbte sich ein tiefschwarzer Himmel, auf dem jeder einzelne Stern zu erkennen war. Ein sanfter Wind ließ Büsche und Bäume unheimlich rascheln. John gab seinen Begleitern ein Zeichen, sich zu ducken, und betrachtete selbst angestrengt die Gegend.
Das Haus der Ayleshams besaß keinen sehr großen, dafür aber
recht unübersichtlichen Hof, als ob ein Gärtner wahllos ein paar Bäume und Hecken gepflanzt hätte. Das Grundstück wurde von einer Mauer umgeben, hinter der das Nachbarhaus aus dunklen Fenstern herüberblickte. Nach zwei Seiten hin gab es Tore, die auf die vordere und auf die hintere Straße führten, aber John beschloß schnell, daß durch sie keine Flucht möglich war. Vermutlich richteten sich jetzt gerade auf diese Tore ein Dutzend feindliche Augenpaare.
»Wir haben nur eine einzige Möglichkeit«, flüsterte er Anthony zu, »wir müssen von hier aus über die Mauer hinweg in den Hof nebenan gelangen. Und von dort erst auf die Straße.«
»Wie sollen wir denn über die Mauer kommen?«
»Sie ist nicht allzu hoch. Wir könnten es schaffen. Aber es muß schnell gehen.«
»Sie haben recht«, mischte sich Cynthia ein, »wir tun alles, was Sie sagen, Lord Carmody!«
Er ist verrückt, dachte Elizabeth, wir kommen nie über diese Mauer. Und ich fürchte, er weiß das auch.
Ihre Knie schlotterten, und ihr Herz raste. Sie erkannte deutlich, daß sowohl Cynthia als auch Anthony in ihrer Verzweiflung John längst die Rolle des tapferen Helden zugeschoben hatten und sich an den Glauben klammerten, er werde sich dieses Vertrauens unbedingt würdig erweisen. Elizabeth aber wußte, daß John viel zuviel getrunken hatte und daß er aus seiner zynischen Haltung dem Leben gegenüber möglicherweise zu einer durch nichts gerechtfertigten Tollkühnheit neigte. Aber dennoch, es mußte an dem Wein liegen, den sie getrunken hatte, oder an der Sternennacht oder einfach an Johns Nähe, sie verspürte bei aller Angst ein keineswegs unschönes Gefühl von Aufregung und Spannung. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, schlich John bereits geduckt zwischen den Büschen hindurch, gefolgt von Anthony und Cynthia. Elizabeth schluckte noch einmal, dann lief auch sie hinterher. Sie erwartete, jeden Moment einen Schrei zu hören, eine Stimme, die sie zum Stehenbleiben aufforderte, oder sogar einen Schuß. Doch alles blieb still. Sie erreichten unbehelligt die Mauer, und zwar
genau an der Stelle, die John für die Uberquerung vorgesehen hatte. Hier stand ein großer Ahorn mit ausladender Krone, deren Schatten alles schützend verdunkelte, was im Umkreis von zehn Schritten geschah. Wenn es überhaupt ein Entkommen für sie gab, dann nur hier.
Anthony mußte aus seinen Händen einen Steigbügel bilden, und John schwang sich auf die Mauer. Er blieb oben sitzen und neigte sich hinab.
»Zuerst Lady Aylesham«, befahl er leise, »dann Elizabeth, und dann Sie, Sir.«
Es bereitete Cynthia und Elizabeth einige Schwierigkeiten, in ihren stoffreichen Abendroben mit den langen Schleppen die Mauer zu erklimmen. Oben angekommen, warteten sie keinen Moment, sondern rutschten sofort auf der anderen Seite wieder hinunter, wo sie mit Herzklopfen stehenblieben, um auf Anthony zu warten. Elizabeth merkte, daß sie erbärmlich fror. Von allen Flüchtenden war sie am leichtesten angezogen, denn ihr zartes Kleid ließ Arme und Schultern frei, und ihren Mantel hatte sie natürlich
Weitere Kostenlose Bücher