Verdacht auf Mord
Er kannte so viele Leute. Leo, Karl und alle anderen.
»Ich habe hier in Lund Geisteswissenschaften studiert«, erzählte er, ohne das näher zu präzisieren. »Damals habe ich mit Karl Wallin im Mikael Hansens Kollegium gewohnt.«
Sie nickte. Das war ein Studentenheim, in dem man mit Stipendium wohnen konnte. Die Miete war sehr gering, wenn man sehr gute Abiturnoten hatte. Man hatte damit anfänglich wohl weniger wohlhabende, aber begabte Studenten finanziell unterstützen wollen. Jetzt wohnte dort Arm und Reich.
»Dann habe ich in Dänemark studiert«, meinte er und sah geheimnisvoll aus. Er richtete sein Fahrrad auf, als wollte er gehen.
Sie fragte nicht weiter.
Eine Mutter rannte schreiend an ihnen vorbei, weil ihr Kind auf den Parkplatz gelaufen war. Sie verabschiedeten sich. Irgendwie ergab sich für ihn nie die Gelegenheit, sich mit ihr zu verabreden. Das war angenehm, so brauchte sie ihm keinen Korb zu geben.
Sie radelte, die Einkaufstüte am Lenker, den Fahrradweg entlang Richtung Osten. Gemächlich. Kam am Delphi vorbei, einem eben erst renovierten Studentenheim, und an den Kleeblatthäusern und gelangte schließlich in die Gegend, in der sie aufgewachsen war. Hier standen recht dicht an kurzen Straßen und von hohen Hecken getrennt zweistöckige Einfamilienhäuser aus dunklem Backstein. Das Haus ihrer Eltern lag an der Ritaregränd, ganz hinten, am Wendeplatz. Es waren fantastische Häuser. Wirkten englisch, sagten manche. Sie freute sich, dass die Nachbarin, die sie von klein auf gekannt hatte, ihr zuwinkte, als sie die Haustür aufschloss.
»Nett, dass du wieder mal da bist!«
Sie winkte zurück und erzählte, alles sei in Ordnung. Dann stellte sie ihre Einkaufstüte in die Diele und schloss die Tür hinter sich ab.
Es roch nach Zuhause. Wie immer.
Um halb drei waren sie in Lund. Claesson warf rasch das Gepäck in der kleinen Wohnung in der Tullgatan ab. Die meisten Sachen waren für Cecilia. Veronika war mit Klara draußen geblieben, weil sich das Kind bewegen musste. Dann fuhren sie zum Präsidium in der Bryggmästaregatan, was recht viel Zeit kostete, weil Claes noch nie dort gewesen war und Veronika den Weg zwar kannte, aber ihn nie mit dem Auto zurückgelegt hatte.
Ein Polizist namens Swärd kümmerte sich um Veronika. Er führte sie in ein Zimmer, um ihr dort verschiedene Fotos zu zeigen.
Claes Claesson und Gillis Jensen sahen sich verlegen an, als sie sich die Hand gaben.
»Sie sind jünger, als ich dachte«, sagte Jensen.
Was auf Jensen selbst hingegen nicht zutraf. Er war nicht jünger, als Claesson gedacht hatte, eher älter. Fast schon im Rentenalter. Vom Typ her erinnerte er an Janne Lundin, er war aber kleiner. Er gehörte zu dieser robusten, gegerbten Sorte. Ein Spürhund, der immer noch die Kraft hatte, die Witterung aufzunehmen.
Claesson hegte großen Respekt vor Kollegen, die schon lange dabei waren, sofern sie nicht resigniert hatten, unflexibel waren oder tranken und ihre Familie vernachlässigten. Die meisten Berufe erforderten sehr viel Erfahrung, davon ließ sich einfach nicht absehen. Die Alten wurden für die Stabilität gebraucht.
Sie saßen im Kaffeezimmer, damit Klara um die Tische herumrennen konnte. Eine eingehendere Vernehmung Veronikas verschoben sie auf Montag. Jetzt wollten sie nur die wichtigsten Fragen klären.
Veronika musterte konzentriert die Gesichter auf einem alten Klassenfoto. Swärd schwieg.
»Es geht nicht«, sagte sie mit resignierter Stimme.
Swärd legte ihr noch weitere Fotos vor, vergrößerte Passfotos einiger Männer neueren Datums.
»Erkennen Sie einen von ihnen?«
Sie strengte sich an. Alle blickten ernst, wodurch sie sich recht ähnlich wurden. Erschwerend kam hinzu, dass alle blond waren.
»Möglicherweise der«, sagte sie und deutete auf einen Mann mit braunen Augen. »Nein, warten Sie. Er ist es! Wenn er etwas größer ist als der Durchschnitt«, sagte sie und deutete mit ihrer Hand über ihren eigenen Kopf. »Aber jetzt hat er längere Haare als auf dem Klassenfoto. Ich glaube, ein wenig gelockte.«
Mit gemischten Gefühlen holte Veronika Klara, die auf dem Korridor hin und her rannte. Wenn sie jetzt auf den falschen Mann gedeutet hatte!
Claes und Jensen begleiteten sie zum Auto. Sie wollte fürs Frühstück einkaufen und dann in die Wohnung gehen. Gillis Jensen lud sie zum Abendessen ein. Seine Frau erwarte sie, sagte er. Veronika fühlte sich erschöpft, und Klara würde durch eine späte Einladung bei ihr Unbekannten
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