Verdacht auf Mord
konnte es einfach nicht bleiben lassen. Dann kaufte sie ein paar Bücher im Taschenbuchladen, mit deren Hilfe sie sich davonträumen wollte. Auf dem Weg nach Hause traf sie eine Arbeitskollegin, die ebenfalls Single war. Da Ester weiter nichts vorhatte, schlug sie vor, einen Kaffee trinken zu gehen. Sie musste irgendwie die Zeit totschlagen. Sie gingen in den Lundagård, der immer noch Tische im Freien hatte. Eine Stunde würden sie sicher dort sitzen.
Die Kollegin erzählte von ihren Plänen, nach Afrika zu reisen. Sie war viel mutiger als Ester, vielleicht war sie auch reifer. Sie kam aus dem nordschwedischen Lycksele, war also im Gegensatz zu Ester Veränderungen gewohnt. Sie hingegen hatte es gemacht wie viele Leute aus Lund, sie war einfach geblieben. Aber ich kann auch nach Afrika fahren, jetzt, wo ich keinen Lebensgefährten mehr habe, dachte sie. Sie ließ sich inspirieren, versprach aber der Kollegin, auf der Arbeit nichts zu erzählen, ehe alles definitiv war. Die Kollegin wollte nicht, dass die Pflegeleitung davon erführe, weil sie nur eine Vertretungsstelle hatte.
Dann strampelte Ester den ganzen langen Weg nach Hause zum Haus ihrer Eltern in Norra Fäladen, einem Wohnviertel aus den Sechzigerjahren. Es war ungefähr genauso weit vom Zentrum entfernt wie das Wohnviertel Djingis Khan, aber sie hatte von klein auf das Gefühl gehabt, am Ende der Welt zu wohnen. Außerdem ging es auf dem ganzen Weg nur bergauf. Ein zäher Hang, der kein Ende nehmen wollte.
Sie hatte in der Stadt nicht eingekauft und bog deshalb auf den Fäladstorget ab. Dort hatte sie Zimtschnecken und Süßigkeiten gekauft, als sie in die Mittelstufe gegangen war. Die Schule lag auf der anderen Seite der Straße. In letzter Zeit war sie selten dort gewesen. Sie hatte das Gefühl, Touristin in ihrer eigenen Stadt zu sein. Der öde Platz mit ziegelfarbenem Pflaster war schmucklos und zugig. Die moderne Kirche am Ostende zierte ein eckiger Glockenturm. Sie empfand all das als ausgesprochen deprimierend. Der Platz war wie ausgestorben. Ein paar Männer lungerten vor der Pizzeria herum, aber die meisten Leute waren auf der Gasse mit den Geschäften zu sehen. Fäladen war der internationalste Stadtteil von Lund, hier lebten Menschen aus aller Welt.
Sie betrat den Coop und kaufte Joghurt, Milch, Brot, ein Glas Pesto und Nudeln. Wein hatten ihre Eltern vorrätig, dessen war sie sich sicher. Sie traf Fathi, eine ehemalige Mitschülerin. Sie kam sich offenbar genauso verloren vor wie Ester. Sie wohnte inzwischen in Brüssel und befand sich auf einer Stippvisite. Ester kam sich wieder hausbacken und feige vor. Sie sah ein, dass sie keinerlei Perspektive besaß, außer der von neuem Leben, des Gebärens.
Vor dem Coop begegnete sie ausgerechnet Gustav Stjärne. Er hatte auch gerade eingekauft, allerdings bei ICA.
»Wohnst du hier?«, fragte er.
»Nein, nur vorübergehend.«
Sie erklärte ihm kurz, dass sie gerade bei ihren Eltern wohnte und dass das auch kein Problem sei, da diese nicht zu Hause, sondern in Australien seien.
»Das ist wirklich weit weg«, scherzte er.
Sie fand, dass er sie komisch anschaute. Er grinste, fragte aber nicht weiter, obwohl seine Augen neugierig wirkten und er stehen geblieben war. Er schien es überhaupt nicht eilig zu haben. Wahrscheinlich schlägt er gleich vor, dass wir zusammen etwas trinken gehen, dachte sie. Was sollte sie dann sagen? Sie würde Leo und diese Geschichte nicht erwähnen. Das ging Gustav Stjärne auch nichts an. Vermutlich wusste er es sowieso bereits. Aber ganz sicher war das nicht. Vielleicht schämte sich Leo ja und erzählte nichts. Schließlich hatte sie Schluss gemacht.
Gustav wohnte in der Kulgränd. Er hatte eine kleine Wohnung unter der Hand gemietet. Das sei kein Problem, erzählte er. Er sei sich nicht sicher, ob er in Lund bleiben würde, schließlich habe er an der Frauenklinik nur eine Vertretung, und vielleicht wolle er wieder ins Ausland, wenn er es recht bedenke. Er sei es gewohnt, mobil zu sein.
»Und? Wo warst du bisher?«, fragte sie und dachte, dass sie es schon wieder mit einem Menschen zu tun hatte, der auf der ganzen Welt zu Hause war.
»Hier und da«, erwiderte er. »In Norwegen, Dalarna, Värmland und Dänemark.«
Mehr nicht, dachte sie, weder China noch Afrika.
»Und wo hast du eigentlich studiert?«
Sie wusste nicht recht, warum sie so neugierig war. Vielleicht nur, weil er nichts von sich aus erzählte. Er musste in Lund studiert haben, davon ging sie aus.
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