Verdacht auf Mord
nach der Türklinke. Die Tür war abgeschlossen. Mit den Fingern suchte sie nach dem Schlüssel, das Schlüsselloch war aber leer. Panik durchfuhr sie. Sie suchte in ihren Jeans nach ihrem Handy. Es lag in der rechten Tasche. Sie zog es heraus und versuchte die Zahlen zu erkennen. Sie sah nur verschwommen. Blinzelte ein paar Mal. Stellte fest, dass der Akku leer war.
»Verdammt!«
Sie stand auf, ging aber sofort wieder in die Knie. Die ganze Welt schwankte. Sie befühlte mit der Hand ihren Hinterkopf. Ihr Haar war nass und verfilzt. Sie betrachtete ihre Finger. Blut. Sie taumelte zum Fenster, sank aber wieder um.
Ich liege hier nur einen Moment und ruhe mich aus, dachte sie.
Dann wurde wieder alles schwarz.
Ester zuckte zusammen. Sie lag unbequem auf dem Fliesenboden. Schmerzen. Kopf, Arme, Beine. Nagender Hunger.
Sie richtete sich auf und saß auf dem Fußboden ihres Gefängnisses. Sie schaute zum Fenster. Zwischen den Blättern war es jetzt dunkler. Abend. Sie war offenbar mehrere Stunden lang bewusstlos gewesen.
Ihr Kopf war geschwollen und schwer, aber jetzt konnte sie besser nachdenken. Das Fenster, sie musste das Fenster öffnen und hinausklettern. Der Riegel saß sehr fest, und ihre Finger glitten ab. Sie zwang sich dazu, fester zuzupacken, und bekam das Fenster schließlich auf. Eine Matte aus Laub und verschlungenen Ästen bedeckte die Fensteröffnung. Sie drehte sich um, wollte nach etwas suchen, womit sie das Efeu wegschneiden konnte, fand aber nur dafür unbrauchbare Gegenstände, Waschmittelschachteln, Fleckenentfernungsmittel, Wäscheklammern.
Sie begann zu ziehen und zu zerren und hatte schließlich ein ausreichend großes Loch, um den Kopf hindurchzustecken. Sie schrie, so laut sie konnte, durch die Blätter. Ihre Stimmbänder waren vertrocknet, und sie trank etwas Wasser am Waschbecken. Schrie noch lauter.
Ihre Schreie drangen nach draußen und prallten auf den Rasen, die Rosenbüsche und den Flieder. Trafen aber auf kein menschliches Wesen. Sie wartete Ewigkeiten. Niemand kam.
Dann zerrte sie wieder an diesem verdammten Efeu. Sie fand einen Plastikeimer, den sie umdrehte. Sie stellte sich darauf und konnte jetzt ihren Kopf weiter durch das Fenster schieben. Dann glitt sie jedoch zurück. Immerhin war das Loch im Efeu jetzt größer. Ihr ganzer Körper schmerzte, aber sie hatte das Stadium, in dem ihr das noch etwas ausmachte, schon weit hinter sich gelassen.
Sie versuchte es erneut und bekam dieses Mal die eine Schulter durch das Loch. Beim nächsten Mal sogar die andere. Jetzt konnte sie einen Arm ausstrecken, sich an der Mauer abstützen und sich langsam in das Blumenbeet sinken lassen.
Dann lag sie zitternd da. Wo war er? Sie kroch mit schmerzenden Knien an der Hauswand entlang, um die Terrasse herum. Die Terrassentür war geschlossen. Sie kroch weiter um die Hausecke. Noch ein Stück. Sie ahnte die großen Fenster dunkel über sich.
Konnte er sie sehen?
Sie stand auf, aber das tat so weh, dass sie schwankte. Sie ging gebeugt wie eine alte Frau. Schlich er hinter ihr her? Sie hatte nicht einmal die Kraft, sich umzudrehen, um nachzusehen.
Sie trat auf die Straße. Stand schwankend da.
»Mama! Schau mal! Eine Hexe voller Blut!«
Die Stimme eines kleinen Kindes hallte ihr in den Ohren, als sie auf der Straße zusammenbrach.
»Eine Schwester, die ich kenne, rief eben an und sagte, Ester sei in der Notaufnahme«, sagte Rigmor. Ein entsetztes Schweigen breitete sich um den Tisch herum aus. Gustav Stjärne erblasste, dabei war er bereits nach seinem Versagen recht schweigsam und bleich gewesen.
»Körperverletzung«, sagte Rigmor, und alle wussten, dass dies ein Verstoß gegen die Schweigepflicht war.
»Nicht zu fassen«, meinte eine Schwester und hob den Blick von ihrem Sudoku.
»Wie geht es ihr?«, wollte Lotten wissen.
»Recht schlecht.«
Die Stimmung am Tisch wurde merkbar schlechter.
Der Telefon klingelte. Gustav Stjärne stand leicht schwankend auf und ging dran.
Der Schmerz ließ nach, und sie wurde schläfrig. Sie schlief fast, als ihr der Chirurg die Platzwunde am Hinterkopf zunähte. Sie war bereits beim Röntgen und auch sonst überall gewesen.
Jetzt legte man sie in ein normales Bett. Weicher. Saubere Bettwäsche. Sie lag da und wartete darauf, dass man sie auf eine Station brachte.
Jetzt war alles gut. Aber trotzdem fehlte ihr ihre Mutter. Die hätte jetzt da sein sollen.
Sie schloss die Augen. Schlief lange.
Sie öffnete die Augen wieder, sie ließen sich
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