Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
Lösungen einfach auswendig gelernt hatten.
Diesmal war Ishigami den Anweisungen des Direktors gefolgt und hatte die gleichen Aufgaben gestellt, die auch auf den Übungsblättern standen.
Morioka gähnte laut und sah auf die Uhr. Sein Blick begegnete dem seines Lehrers. Ishigami glaubte, dem Jungen müsse das unangenehm sein, aber dieser zog nur eine Grimasse und zuckte die Achseln. Keine Ahnung, sollte das wohl heißen. Ishigami grinste ihn an. Etwas verblüfft grinste Morioka zurück und sah wieder aus dem Fenster.
Ishigami dachte daran, wie sein Schüler ihn nach dem Nutzen der Differential- und Integralrechnung gefragt hatte. Er hatte es ihm anhand eines Beispiels aus dem Rennsport erklärt, bezweifelte aber, dass der Junge etwas davon verstanden hatte. Dabei war Moriokas Einstellung ihm nicht einmal zuwider. Es war ganz natürlich zu fragen, warum man etwas Bestimmtes lernen sollte. Erst wenn diese Frage beantwortet war, konnte man sich mit dem Ziel auseinandersetzen und dadurch zu einem wahren Verständnis der Mathematik gelangen. Doch viele Lehrer waren nicht bereit, auf solche einfachen Fragen einzugehen. Sie konnten sie nicht einmal beantworten. Sie hielten sich starr an den Lehrplan, ohne den wahren Sinn der Mathematik zu verstehen. Ihr einziges Ziel bestand darin, dass die Schüler die für die Versetzung erforderliche Punktzahl erreichten. Fragen wie die von Morioka störten da nur.
Was mache ich hier eigentlich, fragte sich Ishigami. Ich lasse Arbeiten schreiben, die nichts mit richtiger Mathematik zu tun haben, nur damit die Schüler ihre Punkte bekommen. Völlig sinnlos. So etwas ist doch keine Mathematik. Und auch keine Pädagogik. Er erhob sich und atmete tief ein und aus.
»Ihr braucht nicht weiterzumachen«, sagte er zu den Schülern.»Ich möchte, dass ihr in der verbleibenden Zeit auf die Rückseite eurer Blätter schreibt, was ihr im Augenblick denkt.«
Verblüffung spiegelte sich auf den Gesichtern. Ein Raunen erhob sich. Was wir denken? Was soll das denn heißen?
»Was ihr gegenüber der Mathematik empfindet. Ihr könnt schreiben, was ihr wollt«, fügte er hinzu. »Ich werde eure Arbeiten danach benoten.«
Sofort hellten sich die Mienen auf.
»Wie viele Punkte bekommen wir denn?«, fragte ein Junge.
»Je nachdem, was ihr schreibt. Vielleicht liegt euch das ja mehr als die Aufgaben.« Ishigami setzte sich wieder auf seinen Stuhl.
Eifrig beugten die Schüler sich über ihre Blätter. Einige begannen sofort zu schreiben. Auch Morioka.
Jetzt kann ich sie alle bestehen lassen, dachte Ishigami. Leere Blätter hätte er schwerlich benoten können, aber solange sie irgendetwas schrieben, konnte er ihnen die entsprechende Punktzahl geben. Dies würde ihm vielleicht eine Rüge vom Direktor eintragen, aber richtig beschweren konnte der sich nicht, schließlich lieferte Ishigami die verlangten Ergebnisse.
Es läutete, die Prüfungszeit war abgelaufen. Einige Schüler baten um eine Verlängerung, also gewährte Ishigami ihnen weitere fünf Minuten.
Anschließend sammelte er die Blätter ein und verließ das Klassenzimmer. Während er die Tür schloss, hörte er, wie einige Schüler laut »Gerettet!« schrien.
Als er ins Lehrerzimmer zurückkam, wartete dort jemand aus dem Sekretariat auf ihn.
»Herr Ishigami, Sie haben Besuch. Ein Herr möchte Sie sprechen.«
»Mich?«
Der Mann aus dem Sekretariat trat einen Schritt näher. »Er ist von der Polizei«, raunte er.
»Aha?«
»Was machen wir?« Der Angestellte sah ihn forschend an.
»Was soll man da machen? Er wartet ja schon.«
»Ich könnte ihn unter einem Vorwand fortschicken.«
Ishigami lachte. »Das ist nicht nötig. Wo ist er denn?«
»Er wartet im Elternsprechzimmer.«
»Gut, ich komme sofort.« Ishigami packte den Stapel mit den Klassenarbeiten in seine Tasche, klemmte sie sich unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sprechzimmer. Er würde die Arbeiten zu Hause korrigieren.
Der Mann aus dem Büro machte Anstalten, ihm zu folgen, aber Ishigami winkte ab. »Ich brauche Sie nicht«, sagte er. Ihm war klar, dass der Mann zu gerne gewusst hätte, was die Polizei von ihm wollte. Den Beamten wegzuschicken, hatte er nur angeboten, weil er hoffte, Ishigami dann besser ausfragen zu können.
Im Sprechzimmer wartete, wie Ishigami bereits vermutet hatte, Kommissar Kusanagi.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie bis in Schule verfolge.« Kusanagi stand auf und verbeugte sich knapp.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin? Wir haben
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