Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
abgestellt und dort gestohlen. Die Fingerabdrücke des mutmaßlichen Opfers befanden sich darauf.«
»Und was ist damit?«
»Was ist das für ein Mörder, der sogar das Gesicht seines Opfers zertrümmert, dann aber vergisst, dessen Fingerabdrücke von einem Fahrrad abzuwischen. Hat er sie jedoch vorsätzlich dort belassen, sieht die Sache schon anders aus. Aber was bezweckte er damit?«
»Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Um eine Verbindung zwischen dem Opfer und dem Fahrrad herzustellen.«
»Und wieso?«
»Vielleicht will der Mörder, dass die Polizei glaubt, das Opfer sei mit dem Fahrrad vom Bahnhof Shinozaki zum Tatort gefahren. Deshalb konnte er auch nicht irgendein gewöhnliches Fahrrad nehmen.«
»Das Fahrrad, das man gefunden hat, war also kein gewöhnliches?«
»Doch, ein ganz normales Rad, wie Frauen es zum Einkaufen benutzen. Es hatte nur eine Besonderheit. Es war nämlich nagelneu.«
Ishigami hatte das Gefühl, sämtliche Poren an seinem Körper würden sich öffnen. Es fiel ihm schwer, seinen Atem zu kontrollieren.
»Guten Morgen«, hörte er zu seiner Überraschung plötzlich jemanden rufen. Eine Schülerin fuhr auf dem Fahrrad an ihnen vorbei. Sie verbeugte sich leicht in Ishigamis Richtung.
»Ja, guten Morgen!«, erwiderte er hastig.
»Interessant«, sagte Yukawa. »Ich dachte, heutzutage grüßen die Schüler ihre Lehrer nicht mehr.«
»Die meisten tun es auch nicht. Aber was hat es zu bedeuten, dass das Fahrrad nagelneu war?«
»Die Polizei denkt, es sei klar, dass jemand, der ein Fahrrad stiehlt, lieber ein neues nimmt. Aber so einfach ist das nicht. Dem Mörder kam es darauf an, wann das Fahrrad am Bahnhof abgestellt wurde.«
»Und weshalb?«
»Ein Fahrrad, das womöglich tagelang dort stand, nützte ihm nichts. Und er wollte, dass der Besitzer den Diebstahl meldete. Also stahl er ein neues Fahrrad. Niemand lässt ein gerade gekauftes Fahrrad tagelang draußen stehen. Und wenn es gestohlen wird, geht er höchstwahrscheinlich zur Polizei. Zwar war keiner dieser Aspekte für die Tarnung des Täters absolut notwendig, aber sie wären doch eine willkommene Unterstützung seines Plans, und er wählte die Taktik mit den meisten Aussichten auf Erfolg.«
»Aha.« Ishigami ging, ohne Yukawas Hypothese weiter zu kommentieren, weiter geradeaus. Da sie sich der Schule näherten, wimmelte es um sie herum nun von Schülern.
»Eine interessante Geschichte.« Ishigami blieb stehen und wandte sich Yukawa zu. »Ich hätte gern noch mehr erfahren. Aber jetzt lässt du mich bitte gehen, ja? Nicht, dass meine Schüler noch zuhören.«
»Klar. Das meiste bin ich sowieso losgeworden.«
»War hochinteressant«, sagte Ishigami. »Übrigens hast du mich doch neulich gefragt, was schwieriger sei – eine unlösbare Aufgabe zu erstellen oder dieselbe zu lösen? Erinnerst du dich?«
»Natürlich. Ich kann dir auch die Antwort geben: Die Aufgabe zu erstellen, ist schwieriger. Der, der sie lösen muss, braucht nur ihren Urheber zu berücksichtigen.«
»Verstehe. Und was ist mit dem P-NP-Problem? Was ist leichter: zu bestimmen, ob die Lösung einer anderen Person richtig ist, oder das Problem selbst zu lösen?«
Yukawa machte ein misstrauisches Gesicht. Was hatte Ishigami im Sinn?
»Du hast mir deine Lösung präsentiert. Nun bist du an der Reihe, die Lösung einer anderen Person zu erleben.« Ishigami zeigte mit dem Finger auf Yukawas Brust.
»Ishigami …«
»Mach’s gut.« Seine Mappe fest unter den Arm geklemmt, wandte Ishigami sich ab und marschierte auf die Schule zu. Das war’s, dachte er. Der Physiker hat alles durchschaut.
Schweigend löffelte Misato ihr Mandelgelee, und Yasuko fragte sich, ob sie sie besser nicht hätte mitnehmen sollen.
»Möchtest du noch etwas, Misato?«, erkundigte sich Kudo fürsorglich. Er bemühte sich schon den ganzen Abend um sie.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schüttelte Misato den Kopf und löffelte mechanisch weiter. Sie saßen in einem chinesischen Restaurant in Ginza. Kudo hatte Yasuko gedrängt, ihre Tochter mitzubringen, und sie hatte Misato mehr oder weniger gezwungen. Ein Mädchen in ihrem Alter konnte man nicht mehr mit der Aussicht auf Leckereien locken, und Yasuko hatte sie nur mit dem Argument überzeugen können, sie würden sich verdächtig machen, wenn sie niemals ausgingen. Doch nun bereute sie es und fürchtete, Kudo zu verärgern. Während des Essens hatte er alles versucht, um ein Gesprächmit Misato anzuknüpfen, die bis zum
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