Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
kann er doch nicht …«
»Was kann er nicht?«, fragte Kusanagi, der nicht mehr an sich halten konnte.
»Zeig mir nochmal Ishigamis Dienstplan«, sagte Yukawa, und Kusanagi zog hastig das gefaltete Blatt Papier aus der Tasche. Yukawa starrte darauf und stöhnte. »Ich fasse es nicht.«
»Yukawa, komm schon, was ist? Sag’s mir auch.«
Yukawa reichte Kusanagi den Dienstplan. »Tut mir leid, aber du musst jetzt gehen.«
»Was? Kommt nicht in Frage!«, protestierte Kusanagi. Aber als er Yukawa ansah, verging ihm jede weitere Bitte. So traurig und gequält hatte er das Gesicht seines Freundes noch nie gesehen.
»Bitte, geh, es tut mir leid«, wiederholte Yukawa. Es klang wie ein Stöhnen.
Kusanagi erhob sich. Er hatte einen ganzen Berg von Fragen. Aber er wusste, dass ihm im Moment nichts anderes übrigblieb, als seinen Freund allein zu lassen.
Kapitel 15
Die Uhr zeigte halb acht Uhr morgens. Ishigami nahm seine Tasche und ging aus dem Haus. In der Tasche befand sich das Wichtigste, was er auf der Welt besaß. Die Unterlagen zu dem mathematischen Problem, an dem er gegenwärtig forschte. Oder statt gegenwärtig sollte man vielleicht richtiger »ständig« sagen. Bereits in seiner Abschlussarbeit an der Universität hatte er sich damit beschäftigt.
Er hatte errechnet, dass er noch über 20 Jahre benötigen würde, um seine These zu vollenden. Im ungünstigen Fall konnte es sogar noch länger dauern. Die Aufgabe war so schwierig, dass es sich seiner Ansicht nach lohnte, ihr sein ganzes Leben zu weihen. Außerdem glaubte er, der Einzige zu sein, der sie lösen konnte. Wie wunderbar wäre es, an nichts anderes mehr denken zu müssen, sich frei von allen zeitraubenden Belangen des täglichen Lebens allein dieser Aufgabe widmen zu können! Mitunter träumte Ishigami davon. Sooft ihn Unsicherheit befiel, ob seine Lebenszeit ausreichen würde, seine Forschungen vollenden zu können, reute ihn jede Minute, die er mit anderen Dingen vergeuden musste. Was auch immer geschah, seine Unterlagen würde er nie zurücklassen. Ishigami gönnte sich nie eine Pause, denn er musste, auch wenn es nur schrittweise war, mit seiner Arbeit weiterkommen. Mehr als Papier und Bleistift brauchte er dazu nicht. Überhaupt brauchte er nichts anderes, solange er an seiner These arbeiten konnte. Mechanisch schlug er den gleichen Weg ein wie immer. Er überquerte die Shin-Ohashi-Brückeund stieg die Treppe zum Sumida hinunter. Rechts von ihm reihten sich die mit blauen Plastiktüten bedeckten Hütten. Der Mann mit dem grauen Zopf hatte wieder einen Topf auf dem Feuer. Neben ihm war ein hellbrauner Mischlingshund angebunden, der sich müde an das Bein seines Herrchens lehnte. Der Dosenmann zertrat wie immer Dosen und murmelte dabei vor sich hin. Neben ihm standen bereits zwei große Plastiktüten mit zerdrückten Dosen. Ein Stück weiter kam eine Bank. Sie war leer. Ishigami warf einen kurzen Blick darauf, schaute wieder zu Boden und ging im gleichen Tempo weiter. Er spürte, dass ihm jemand entgegenkam. Um diese Zeit begegnete er immer der alten Frau, die ihre drei Hunde spazieren führte, aber sie schien es nicht zu sein. Ishigami sah auf.
»Ah«, entfuhr es ihm, und er blieb stehen. Die andere Person lächelte und kam weiter auf ihn zu.
»Guten Morgen«, sagte Manabu Yukawa, als er vor ihm stand.
Nach kurzem Zögern fuhr Ishigami sich mit der Zunge über die Lippen. »Du hast auf mich gewartet?«
»So ungefähr«, erwiderte Yukawa. Er lächelte noch immer. »Oder vielleicht nicht ganz. Ich bin von der Kiyosu-Brücke den Fluss entlanggeschlendert. Ich dachte mir, dass ich dich hier treffe.«
»Dann muss es ja etwas Dringendes sein.«
»Dringend, na ja. Doch, könnte man sagen.«
»Dann schieß lieber gleich los.« Ishigami sah auf die Uhr. »Ich habe nicht viel Zeit.«
»Es dauert nur ungefähr fünf Minuten.«
»Können wir im Gehen reden?«
»Von mir aus.« Yukawa sah sich um. »Aber lass uns nocheinen Moment hierbleiben. Drei Minuten genügen. Komm, wir setzen uns auf die Bank dort.«
Er ging, ohne Ishigamis Antwort abzuwarten, auf die leere Bank zu. Ishigami seufzte und folgte seinem Freund.
»Wir sind ja schon mal zusammen hier entlanggegangen, nicht?«, sagte Yukawa.
»Stimmt.«
»Damals hast du gesagt, dass diese Obdachlosen wie nach der Stechuhr lebten. Weißt du noch?«
»Ja, und du hast gesagt, das passiert, wenn man Menschen von der Uhr befreit.«
Yukawa nickte befriedigt.
»Leider ist es für uns beide
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