Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
aber ich habe den Eindruck, dass er aus Rücksicht auf mich etwas vor mir verbirgt. Ich habe ihn gefragt, aber Sie wissen ja, wie stur er sein kann.«
Ihm war unklar, wie gut seine Erklärung ankam, aber der Student nickte. Vielleicht gefiel ihm der Hinweis auf Yukawas Sturheit.
»Ich weiß nicht genau, was er suchte, aber vor ein paar Tagen hat der Professor in der Bibliothek angerufen«, sagte Tokiwa.
»In der Universitätsbibliothek?«
Tokiwa nickte. »Anscheinend hat er gefragt, ob sie Zeitungen haben.«
»Zeitungen? Haben doch alle Bibliotheken.«
»Professor Yukawa wollte wissen, wie lange sie die alten Zeitungen aufbewahren.«
»Die alten Zeitungen …?«
»Aber er suchte keine von ganz früher. Ich glaube, er hat sich erkundigt, ob er Einblick in die Zeitungen von diesem Monat bekommen könne.«
»Aha? Und? War das möglich?«
»Ich glaube schon, denn er ist anschließend gleich in die Bibliothek gegangen.«
Kusanagi bedankte sich bei Tokiwa und erhob sich, seinen noch halbvollen Pappbecher in der Hand.
Die Bibliothek der Kaiserlichen Universität war ein kleines zweistöckiges Gebäude. Kusanagi war in seiner Studienzeit höchstens zwei- oder dreimal dort gewesen. Vermutlich war sie seither erweitert worden, aber er konnte sich ohnehin nicht mehr erinnern, wie das Gebäude früher ausgesehen hatte. Für ihn wirkte es völlig neu.
Er wandte sich gleich an die zuständige Dame an der Theke und fragte, ob Professor Yukawa sich neulich Zeitungen habe geben lassen. Sie musterte ihn so argwöhnisch, dass Kusanagi nichts anderes übrigblieb, als ihr seinen Ausweis zu zeigen. »Die Sache hat nichts mit Professor Yukawa persönlich zu tun. Ich möchte nur wissen, welche Artikel er damals gelesen hat.« Er fand selbst, dass diese Begründung etwas seltsam klang.
»Ich glaube, er wollte die Ausgaben vom März lesen«, sagte die Frau vorsichtig.
»Wissen Sie, für welche Artikel er sich interessierte?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte die Frau, aber dann öffnete sie leicht den Mund, als erinnere sie sich an etwas. »Ich glaube, er sagte, er brauche nur die Gesellschaftsseiten.«
»Aha? Wo sind denn die Zeitungen?«
»Hier entlang bitte.« Sie führte ihn zu einer Reihe niedriger Regale, auf denen Zeitungen gestapelt waren. Immer zehn Ausgaben auf einem Stapel, erklärte ihm die Bibliothekarin. »Wir haben hier nur die Zeitungen vom vergangenen Monat. Die älteren werden entsorgt. Früher haben wir alles archiviert,aber heutzutage kann man ja das meiste im Internet nachlesen.«
»Und Professor Yukawa sagte, er brauche nur die vom März?«
»Eigentlich nur die ab dem 10. März.«
»Ab dem 10.?«
»Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Darf ich mir die Zeitungen mal anschauen?«
»Bitte. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind.«
Als sie gegangen war, zog Kusanagi einen Stapel Zeitungen heraus und legte ihn auf den Tisch daneben. Er beschloss, mit den Gesellschaftsseiten vom 10. März zu beginnen.
Offenbar war Yukawa in die Bibliothek gekommen, um Recherchen über den Mord an Shinji Togashi anzustellen. Aber was hatte er anhand der Zeitungen herausfinden wollen? Kusanagi suchte nach Artikeln über den Mord. Die ersten fand er in den Abendausgaben vom 11. März, dann gab es erst wieder welche am Morgen des 13. März, nachdem die Polizei die Identität des Opfers bekanntgegeben hatte. Danach wurde der Fall erst wieder in einem Artikel vom Vortag erwähnt, in dem berichtet wurde, dass Ishigami sich gestellt hätte.
Was hatte Yukawa in diesen Artikeln gesucht?
Kusanagi las einige davon mehrmals sorgfältig.
Keiner war inhaltlich besonders aufschlussreich. Yukawa hatte von Kusanagi weit mehr Informationen erhalten, als diese Artikel ihm bieten konnten. Es war völlig überflüssig für ihn gewesen, diese Artikel zu lesen. Kusanagi verschränkte die Arme vor den Zeitungen. Yukawa war kein Mann, der sich bei Recherchen auf die Presse verlassen würde. In Japan geschah fast täglich ein Mord und so lange sich keine sensationellen Entwicklungen ergaben, berichteten die Zeitungen nurselten fortlaufend über einzelne Fälle. Der Mord an Togashi war kein Ereignis von öffentlichem Interesse. Aber das alles war Yukawa auch bekannt. Andererseits war er kein Mensch, der grundlos handelte.
Kusanagi hatte noch immer das Gefühl, dass Ishigami nicht der Mörder war. Er konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass er und seine Kollegen auf dem Holzweg waren. Yukawa wusste, worin ihr Irrtum bestand.
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