Verdammnis
leichtes Bier getrunken und auf Wein und Schnaps verzichtet. Gegen halb elf war sie also noch immer nüchtern, und da sie ihren großen Bruder in mancher Hinsicht als Vollidioten einstufte, um den man sich kümmern musste, bot sie ihm großzügig an, ihn via Enskede nach Hause zu fahren. Sie hatte sowieso vorgehabt, ihn zur Bushaltestelle am Värmdövägen zu bringen, und es würde nicht wesentlich länger dauern, ihn bis in die Stadt zu fahren.
»Warum legst du dir kein eigenes Auto zu?«, beklagte sie sich, als Mikael den Sicherheitsgurt anlegte.
»Weil ich im Gegensatz zu dir zu Fuß in die Arbeit gehe und ungefähr einmal im Jahr ein Auto brauche. Außerdem könnte ich heute sowieso nicht fahren, weil dein Schatz Schnaps aus Skåne ausgeschenkt hat.«
»Der wird langsam zum Schweden. Vor zehn Jahren hätte er noch Grappa angeboten.«
Sie nutzten die Fahrt für ein Bruder-und-Schwester-Gespräch. Der Altersunterschied von drei Jahren bedeutete, dass sie als Teenager nicht besonders viel gemeinsam gehabt hatten, aber dafür begannen sie sich im Erwachsenenalter umso besser zu verstehen.
Annika hatte Jura studiert, und für Mikael war sie eindeutig die Begabtere von ihnen beiden. Sie hatte ihr Studium mit links absolviert, ein paar Jahre am Gericht gearbeitet und war danach Assistentin eines der bekanntesten Anwälte in Schweden gewesen. Schließlich hatte sie gekündigt und eine eigene Kanzlei eröffnet. Annika hatte sich auf Familienrecht spezialisiert, was nach und nach zu einem Gleichstellungsprojekt wurde. Sie engagierte sich als Anwältin für misshandelte Frauen und hatte ein Buch über dieses Thema geschrieben. Obendrein engagierte sie sich auch noch bei den Sozialdemokraten, woraufhin Mikael sie damit aufzog, dass sie langsam zum Politkommissar wurde. Er selbst hatte bereits früh beschlossen, dass sich eine Parteizugehörigkeit schlecht mit journalistischer Glaubwürdigkeit vereinbaren ließ. Er vermied es sogar, zu den Wahlen zu gehen, und wenn er es doch tat, verriet er nicht einmal Erika Berger, für wen er gestimmt hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte Annika, als sie an der Skurubron vorbeikamen.
»Ach, ganz gut.«
»Und wo liegt dein Problem?«
»Mein Problem?«
»Ich kenn dich doch, Micke. Du warst den ganzen Abend über so nachdenklich.«
Mikael schwieg eine Weile.
»Das ist eine komplizierte Geschichte. Ich habe momentan zwei Probleme. Das eine ist ein Mädchen, das ich vor zwei Jahren kennengelernt habe. Sie hat mir im Zusammenhang mit der Wennerström-Affäre geholfen und ist danach ohne jede Erklärung aus meinem Leben verschwunden. Seitdem habe ich sie über ein Jahr nicht mehr gesehen - bis letzte Woche.«
Mikael erzählte von dem Überfall in der Lundagatan.
»Hast du Anzeige erstattet?«, fragte Annika sofort.
»Nein.«
»Warum denn nicht?«
»Dieses Mädchen hält extrem viel auf ihre Privatsphäre. Sie ist diejenige, die überfallen wurde, also muss sie auch selbst Anzeige erstatten.«
Mikael hatte den Verdacht, dass etwas Derartiges nicht besonders hoch auf Lisbeth Salanders Tagesordnung rangierte.
»Dickschädel«, sagte Annika und tätschelte Mikael die Wange. »Und dein zweites Problem?«
»Wir planen bei Millennium gerade eine Story, die hohe Wellen schlagen wird. Ich habe schon den ganzen Abend überlegt, ob ich dich konsultieren soll. Als Anwältin, meine ich jetzt.«
Annika warf ihrem Bruder einen verblüfften Blick zu.
»Mich konsultieren«, platzte sie heraus. »Das ist ja mal was ganz Neues.«
»Bei der Geschichte geht es um Mädchenhandel und Gewalt gegen Frauen. Das Thema dürfte dir ja bekannt sein. Pressefreiheit ist zwar nicht dein Spezialgebiet, aber ich würde dich furchtbar gern bitten, den Text einmal durchzulesen, bevor er in Druck geht.«
Annika bog schweigend in den Hammarby fabriksväg ein und passierte Sickla sluss. Durch diverse Nebenstraßen fuhr sie parallel zum Nynäsvägen, bis sie schließlich auf den Enskedevägen einbiegen konnte.
»Weißt du, Mikael, ein einziges Mal in meinem ganzen Leben war ich richtig sauer auf dich.«
»Tatsächlich?« Mikael war überrascht.
»Als du von Wennerström verklagt und wegen Verleumdung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurdest. Ich war so wütend auf dich, dass ich fast krepiert wäre.«
»Warum denn? Ich hatte eben einen Fehler gemacht.«
»Du hast schon öfter Fehler gemacht. Aber damals hättest du einen Anwalt gebraucht, und die Einzige, an die du dich nicht gewandt hast, war ich.
Weitere Kostenlose Bücher