Verdammt wenig Leben
er sich den Kopf darüber zerbrach, wie er Freys Tod verhindern konnte. Am besten schlich er sich einfach nur ins Labor und tauschte die Kapseln mit dem Impfstoff gegen eine Dose aus, die genauso aussah, aber harmlose Pillen enthielt. Also hatte er einen Ausschnitt aus Freys Storyboard an den Betreiber der Website geschickt, mit genauen Angaben darüber, was er haben wollte: Kapseln, die genauso aussahen wie die auf dem Bild, aber einen harmlosen Stoff enthielten. Er hatte gestaunt, wie schnell sie geliefert wurde. Nach weniger als einer halben Stunde kam ein Tarnroboter über den hinteren Balkon seiner Wohnung hereingeflogen und händigte ihm das Produkt aus. Es war natürlich nicht gerade billig gewesen, aber damit war der erste Teil seines Problems gelöst.
Seine Hände zitterten auf der Steuerung des Gleiters, als er daran dachte, was er vorhatte. Er wollte einem Menschen das Leben retten. Er würde die tödlichen Kapseln, mit denen der Produzent Edgar Freys Tod herbeiführen wollte, gegen eine völlig harmlose Substanz austauschen. Im Prinzip musste niemand erfahren, was eigentlich hätte passieren sollen. Das Labor war höchstwahrscheinlich nicht mit einem nächtlichen Videoüberwachungssystem ausgestattet, so etwas setzte man nur an ganz wenigen Orten ein … In einer Welt, in der selbst das Allerprivateste allgemein bekannt war, gab es nur noch wenige Geheimnisse. Außerhalb der Sendezeit in diesem Labor herumzuschnüffeln wäre, als würde man ein leeres Theater auskundschaften. Auf so eine Idee würde niemand kommen.
Er parkte seinen Gleiter am Ausgang eines Tunnels, der zum Gelände der naturwissenschaftlichen Fakultäten führte. Auf dem Rollsteig kamen ihm zwei schläfrige Studentinnen entgegen, die nach unten fuhren. Keine von beiden schenkte ihm die geringste Beachtung. Bestimmt hatten sie getrunken.
Als er im Freien war, hielt er sich im Schatten der Bäume, abseits der asphaltierten Wege. Das Gras war feucht und mit heruntergefallenen Blättern übersät. Ein Gärtnerroboter flatterte um eine der Hecken herum und schnitt sie zurück. Jason wusste, dass er sich um diesen Typ Roboter keine Sorgen zu machen brauchte, die waren nur darauf programmiert, ihre Aufgabe zu erfüllen.
Sein Herz schlug so schnell, dass er nur mit Mühe Luft bekam. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass er etwas ohne Drehbuch tat. Und eigentlich hatte er sich nur entschlossen zu handeln, weil etwas ihm sagte, dass Minerva im Grunde genau das von ihm erwartete. Ganz verstand er es zwar nicht, aber er kannte sie gut genug, um zu ahnen, was sie wollte. Dieses seltsame Drehbuch mit Edgar Frey in der Hauptrolle musste eine verschlüsselte Nachricht sein. Minerva stellte seine Intelligenz und sein Reaktionsvermögen auf die Probe. Und auch seinen Mut. Er wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn er entdeckt wurde. Wahrscheinlich wäre es das Ende seiner Karriere … Aber daran wollte er lieber nicht denken.
Obwohl er Angst hatte, war er zugleich aufgekratzt und wie elektrisiert, als wäre er zu allem fähig. Niemals zuvor hatte er sich dermaßen schutzlos gefühlt. Ihn wunderte nur, dass dieses Gefühl ihm alles andere als unangenehm war. Im Gegenteil: Es war, wie frei im Meer zu schwimmen, etwas, das ihm selten erlaubt wurde. Es war wunderbar und beunruhigend. Er wusste, dass er jederzeit eine andere Richtung einschlagen konnte, dass er gehen konnte, wohin er wollte, und niemand würde jemals erfahren, welches Ziel er sich ausgesucht hätte. Von den Schatten geschützt, bildete er in diesem Moment eine Einheit mit der Landschaft aus vereinzelten Gebäuden und großen herbstlichen Bäumen; er war einfach wie ein weiterer Bestandteil dieser Verflechtung von Natur und Menschenwerk um ihn herum.
Während er geräuschlos auf einen der Seiteneingänge der pharmazeutischen Fakultät zusteuerte, wanderten seine Gedanken zu seinen Eltern, die jetzt in einem Heim an der Küste lebten. Nach ihrem Rückzug aus der Medienwelt (wo ihre Erfolge eher bescheiden gewesen waren) bestand ihr Leben aus dem vormittäglichen Basteln und dem nachmittäglichen Yoga, dazu kamen tägliche Besuche bei ihrem Psychiater, der die Medikation überprüfte. Obwohl die Pflegerinnen ihnen oft von Jason und seinen Erfolgen erzählten, erinnerten sie sich kaum mehr daran, dass sie einen Sohn hatten. Den Heimbewohnern war es nicht gestattet, emotional belastende Serien zu verfolgen. Jason besuchte seine Eltern etwa alle sechs Wochen und war immer
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