Verdammt wenig Leben
den Tunneln zugenommen hatte und das Vorwärtskommen schwieriger war, nickte er unterwegs ein. Er hatte sogar einen Traum.
Er träumte von Alice’ warmem Körper, von der Erregung, in die ihr halb aufgeknöpftes Kleid ihn versetzte, und während er ihren Hals küsste, war das hartnäckige Quieken einer weißen Ratte zu hören, mechanisch und penetrant wie ein Wecker.
6
Jason wachte mit trockenem Mund und einem unangenehmen Druck im Magen auf. Um sich von seinem nächtlichen Ausflug zu erholen, hatte er fast den ganzen Tag geschlafen, bis das beharrliche Klingeln seines Telefons ihn in die Realität zurückholte.
Paul war besorgt. Er hatte im Lauf des Vormittags mehrmals versucht, ihn zu erreichen. Tinkerbell hatte ihn beschwichtigen wollen, aber Paul gab grundsätzlich nicht viel auf die Erklärungen von Hausrobotern.
»Jason, wo hast du denn gesteckt?«, warf er ihm als Begrüßung an den Kopf. »Mach das nicht noch mal, das ist unprofessionell!«
»Tut mir leid, ich habe bis eben geschlafen. Wegen der Neuerung mit Alice habe ich die ganze Nacht wach gelegen …«
»Ja, ja. Hör zu, ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ich wollte dir Bescheid sagen, dass du heute Abend um Viertel nach neun im Club Siebzig sein musst. Du bist mit ein paar Freunden verabredet. Ein lockeres Abendessen, du weißt schon. Es wird natürlich gesendet, also versuch gut rüberzukommen.«
»Wer kommt alles?«
»Die üblichen. Du kennst sie eigentlich alle. Eine Männerrunde. Wenn du Alice mitnehmen wolltest, kannst du es also vergessen. Keiner wird ein Drehbuch bekommen, es geht darum, dass ihr einfach Spaß miteinander habt. Versuch es unbedingt gut zu machen. Sei brillant, amüsant, aber werd nicht ordinär. Na ja, du weißt ja, wie das geht. Wir reden morgen, Jason. Ich bin auf dem Sprung zu einem Arbeitstreffen.«
Nachdenklich legte Jason auf. Das Abendessen war um Viertel nach neun. Bis dahin waren es noch fast drei Stunden. Er überlegte, seine Drehbuchautorin anzurufen, tat es aber nicht. Wenn Minerva nicht rangehen wollte, würde seine Hartnäckigkeit ihm gar nichts nützen. Sie bestimmte die Regeln des Spiels; so war es schon immer gewesen. Das Problem war nur, dass sie diesmal mitten im Spiel beschlossen hatte, die Regeln zu ändern. Und dass er auf eigene Faust herausfinden musste, wie die neuen Regeln aussahen.
Er zog sich ein kariertes Hemd über den Pyjama und rief nach Tinkerbell.
»Komm, mach mir einen Kaffee. Ich bin am Rechner.«
Während er seine kleine kybernetische Helferin in der Küche hantieren hörte, schaltete er den holografischen Bildschirm ein und tippte »Edgar Frey« in die Suchmaschine. Die Folge mit der Testimpfung war an diesem Morgen live übertragen worden und hatte beim Publikum großen Anklang gefunden. Frey war gesund und munter und seine Fans bewunderten ihn mehr denn je.
Jason lächelte zufrieden. Es war seltsam, einem Menschen das Leben gerettet zu haben, ohne dass jemand davon erfuhr, nicht einmal der Betroffene selbst. Er hatte sein ganzes Leben für die Kameras gelebt und ausgerechnet diese so unglaublich heldenhafte Tat sollte für immer anonym bleiben. Der Gedanke störte ihn ein wenig, aber gleichzeitig löste er eine absurde Aufregung in ihm aus, als wäre dies der Beginn einer Reise ins Unbekannte.
Tinkerbell brachte ihm den Kaffee, schön stark, wie er ihn mochte. Er trank ihn in einem Zug leer, dann ging er mit entschlossenen Schritten zur Garderobe und griff nach dem Rucksack, den er in der vergangenen Nacht im Labor dabeigehabt hatte. Er öffnete den Reißverschluss und nahm das karamellbraune Fläschchen mit den Kapseln heraus.
Er drehte es langsam zwischen den Fingern und betrachtete es aufmerksam. Fast hatte er schon geglaubt, er hätte nur geträumt, aber hier war es tatsächlich. Minerva hatte seine Aufmerksamkeit auf diese Kapseln gelenkt. Warum?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Er musste herausbekommen, was für Tabletten das waren.
Als er die schwarze Verschlusskappe abschraubte, strahlte ein grünes Leuchten aus dem Inneren des Fläschchens. Ein holografischer Beipackzettel. Zehn Sekunden später hatte sich das Licht zu einer dreidimensionalen menschlichen Gestalt verdichtet, die die Eigenschaften des Präparats mit glasklarer Stimme vortrug.
»Dies ist ein Arzneimittel zur Behandlung von multiplen Persönlichkeitsstörungen. Eine Tablette enthält 3 Milligramm Chrysotropin und wirkt sich hemmend auf die Alpha-Amino-Telo-Isomerase aus, den
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