Verdammt wenig Leben
stolpernde Klopfen seines Herzens unter Kontrolle zu bringen. Im Schein seines Telefondisplays entdeckte er unter dem Stahltisch einen kleinen, verdreckten Käfig, in dem zwei weiße Ratten saßen. Ihm wurde speiübel. Erschrocken über die plötzliche Helligkeit quiekten die Tiere wieder. Jason wankte ins Hauptlabor zurück, warf dort das Handy auf den Arbeitstisch und riss eines der Fenster auf. Gierig sog er die kalte, feuchte Nachtluft ein und schloss die Augen. Einen Moment lang hatte er das Gefühl gehabt zu ersticken …
Allmählich fühlte er sich besser. Erst dann fiel ihm auf, wie unvorsichtig sein Verhalten war. Das Telefon auf dem Tisch warf violettes Licht an die Decke. Jeder, der am Gebäude vorbeiging, konnte nicht nur das Licht, sondern wahrscheinlich auch seine Silhouette sehen. Hastig deaktivierte er die Taschenlampenfunktion und spähte zu dem Stück Rasen mit vereinzelten Bäumen hinunter, das unter dem Fenster lag. In diesem Moment schob sich ein Wolkenfetzen vor den Mond und schwächte dessen Licht ab. Dennoch kam es ihm so vor, als würde er an einem der Bäume den Umriss einer Frau erkennen. Sie stand so still, dass sie kaum von dem dunklen Baumstamm, an dem sie lehnte, zu unterscheiden war. So still, dass sie nicht real sein konnte …
Das war doch absurd. Er ließ sich von der Panik hinreißen und sah Gespenster, wo es keine gab. Er musste sich beruhigen; schließlich lief doch alles nach Plan. Jetzt musste er nur noch einen Container für gefährliche Abfälle finden, wie es in jedem pharmazeutischen Labor einen gab, und das Glas mit der tödlichen Substanz, die Edgar Freys TV-Erfolg ein für alle Mal beenden sollte, hineinwerfen.
Er fand den Container direkt unter dem weißen Arbeitstisch, auf den er sich gestützt hatte, um durchzuatmen. Ein roter Totenkopf auf gelbem Grund signalisierte deutlich, wie gefährlich der Inhalt dieses zylindrischen Mülleimers war. In Freys Sendung hatte er gesehen, wie der Wissenschaftler eigenhändig verdorbene Kulturen in einen ähnlichen Behälter geworfen hatte. Gerade als er ihn aufschrauben wollte, fiel ihm das karamellfarbene Glasfläschchen ins Auge, das neben dem Container auf dem Boden stand.
Merkwürdig. Dieses Fläschchen voller Kapseln sah aus wie das auf der Zeichnung, die Minerva ihm gerade geschickt hatte. Er griff danach und hielt es hoch, um im Mondschein zu sehen, was drin war.
Ja, auch die Kapseln sahen genauso aus. Offensichtlich hatte Minerva ihn darauf aufmerksam machen wollen. Aber in welcher Absicht? Sollte er sich das Fläschchen einfach nur ansehen und wieder an seinen Platz stellen oder erwartete sie, dass er irgendetwas damit machte? Sollte er es einstecken? Eine dieser Kapseln schlucken?
Ihm kam eine alte Verfilmung von »Alice im Wunderland« in den Sinn. Darin stieß Alice auf ein Fläschchen, auf dessen Etikett »Trink mich« stand. Ihm war natürlich klar, dass er sich nicht im Wunderland befand, sondern an einem viel unheilvolleren Ort, an dem man besser kein unnötiges Risiko einging. Er konnte aber auch nicht ewig dieses Fläschchen mit Tabletten anstarren und überlegen, was er damit machen sollte. Er musste das Gebäude so schnell wie möglich verlassen, bald würde es hell werden …
Er warf das Pillendöschen, das für Edgar Frey bestimmt war, in den Container und schraubte ihn wieder zu. Dann griff er unentschlossen nach dem Fläschchen mit den Kapseln und steckte es in den Rucksack. Er konnte ja zu Hause entscheiden, was er damit machen sollte. Jetzt musste er erst einmal so schnell wie möglich verschwinden.
Rasch lief er die Treppe hinunter und bewegte sich erst wieder langsamer, als er die Glastür erreichte, durch die er hereingekommen war.
In dem Moment, als er seine VIP-Card in den Kartenscanner steckte, überfiel ihn panische Angst. Was wäre, wenn die Tür nicht aufging? Dann würde er hier festsitzen, bis das elektronische Kontrollsystem der Fakultät am Morgen freigeschaltet wurde.
Doch zum Glück sprang die Tür auf. Jason glitt wie ein Schatten an der Fassade der Fakultät entlang und blickte nach rechts und links, bevor er sich auf einen der Kieswege wagte, die zum nächstgelegenen Tunneleingang führten. Er gönnte sich keine einzige Verschnaufpause, bis er in seinem Gleiter saß. Dann, und erst dann, entspannten sich seine Kiefermuskeln und ein müdes Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.
Er startete und programmierte den Autopiloten, ihn nach Hause zu bringen. Obwohl der Verkehr in
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