Verdammt wenig Leben
offenen Kittel ein T-Shirt mit einem Satz auf Englisch. Auf keinem Bild war der ganze Satz zu lesen. Aber als er sie miteinander verglich, konnte Jason ihn ohne große Mühe zusammensetzen.
Just dare, stand da. Be a hero.
Es war schon nach zwei Uhr nachts, als das kleeblattförmige Telefon in Jasons Schoß zu vibrieren begann. Er war auf dem Sofa eingenickt. Eine Nachricht von Paul. Noch halb verschlafen öffnete er die angehängte Datei.
Das Storyboard, das Edgar Frey von Minerva bekommen hatte, war ganz ähnlich wie das, das Jason kannte, allerdings bemerkte er gleich ein paar feine Unterschiede. Zum Beispiel trug die Assistentin des Wissenschaftlers den Kittel geschlossen, und das T-Shirt, das ihm in der anderen Version so aufgefallen war, war gar nicht zu sehen. Es gab auch kein Telefonat mit dem Agenten (Paul, wie er jetzt wusste) und natürlich genauso wenig den Todeskampf des Forschers. Nach der Einnahme der Tablette verließ Frey das Labor und rief auf dem Nachhauseweg einen Journalisten an, um ihm zu erzählen, was er getan hatte. Ihm war ein wenig schwindlig, aber das verging sofort wieder, und er kam gesund und munter in seiner Wohnung an. So sollte die Sendung wohl enden.
Jason schaltete das Telefon aus und ging in die Küche, um ein Beruhigungsmittel zu nehmen. Aber als er die Tablettenpackung in der Hand hielt, zögerte er. Wenn er das hier schluckte, würde er bis zum späten Vormittag tief schlafen. Dann würde Edgar Freys Labor voller Leute sein, die dort ihrer Arbeit nachgingen, und er würde da nicht einfach aufkreuzen können. Dann war die Chance, etwas zu tun, um das Leben des Wissenschaftlers zu retten, definitiv verschenkt.
Er packte die Schachtel mit dem Beruhigungsmittel unangebrochen wieder weg. Wie ein Roboter ging er ins Schlafzimmer und legte sich angezogen auf das zerwühlte Bett. Das Licht war ausgeknipst, aber durchs Fenster drang genügend Helligkeit, um alle Umrisse zu erkennen.
Die Augen starr an die Decke gerichtet, lauschte Jason dem fast unhörbaren Ticktack seines Weckers, ein Modell, wie man sie früher gehabt hatte. Seine phosphoreszierenden Zeiger schienen in der Dunkelheit zu schweben. Sie standen auf halb vier.
Es würde noch vier Stunden dauern, bis die Sonne aufging.
5
Im Osten der Stadt zerriss das bläuliche Morgenlicht den nachtschwarzen Himmel hinter den halb transparenten Umrissen der Hochhäuser. Noch nie war Jason zu so früher Stunde ins Freie gegangen. Nicht einmal der öffentliche Nahverkehr war schon in Betrieb. Außerdem wagte er zum ersten Mal überhaupt, sein GPS-Implantat auszuschalten, bevor er das Haus verließ – wenn das herauskam, konnte es ihm eine saftige Strafe wegen Verstoßes gegen den Vertrag mit dem Produzenten einbringen.
Als sein Gleiter auf dem spiegelnden Gehweg aufsetzte, wusste er, welche Richtung er einschlagen musste. Er hatte einen großen Teil der Nacht damit verbracht, zu recherchieren, wo Freys Labor lag und wie er am schnellsten und unauffälligsten hinkam. Am Ende hatte er entschieden, einen der unterirdischen Tunnel zu benutzen, die das Stadtzentrum mit der Universität verbanden. Angeblich war dort immer etwas los, nachts feierten Studenten Partys, ohne dass jemand von dem Lärm gestört wurde. Das duldeten die Behörden offenbar stillschweigend, denen es hauptsächlich darauf anzukommen schien, dass die Sperrstunde an der Oberfläche eingehalten wurde.
Tatsächlich hielten sich im Tunnel zahlreiche Grüppchen von jungen Leuten auf. Die meisten saßen in den Ruhebuchten und tranken und unterhielten sich, ihre Gleiter hatten sie auf dem Seitenstreifen geparkt. Einige tanzten. Einen Moment lang beneidete Jason sie um ihr unbeschwertes Glück. Viele dieser Jungen und Mädchen träumten davon, ein Star wie er zu werden, aber um es so weit zu bringen, hatte er auf solche kleinen Freuden verzichten müssen. Das Studentenleben … Zu diesem Thema gab es viele Serien. Leider würde Jason nie in einer davon die Hauptrolle spielen dürfen. Seine Karriere hatte einen anderen Kurs eingeschlagen.
Während sein Gleiter geschickt den anderen Fahrzeugen im Tunnel auswich, strich Jason nachdenklich über die kleine Pillendose in seinem Rucksack. Er hatte sie sich über eine sichere Internetleitung besorgt, auf die der Produzent keinen Zugriff hatte. Irgendwann einmal hatte Clarissa ein Portal erwähnt, auf dem Drogen und nicht zugelassene Medikamente relativ preisgünstig angeboten wurden. Das war ihm wieder eingefallen, als
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