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Verdammt wenig Leben

Verdammt wenig Leben

Titel: Verdammt wenig Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Alonso , Javier Pelegrin
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die Arme schließen konnte. In den Visionen seines Halbschlafs sah er sich selbst, wie er sie streichelte, ihr mit den Fingern über die langen kupferroten Haare strich. Sie hatte dabei die Augen geschlossen und lächelte …
    Bei dieser Vorstellung bekam er eine Gänsehaut. So wollte er nicht an Minerva denken. Er war dabei, sämtliche Regeln zu brechen. Nein, eher brach der Boden unter ihm weg. Wie Alice im Wunderland fiel er durch ein schwarzes Loch
    ins Bodenlose und wusste nicht, ob er am Ende in einem Fantasieland oder im absoluten Nichts landen würde. Er wusste nur, dass er kein Kind mehr war und schon als Kind nicht ans Wunderland geglaubt hatte.

    Das Surren der Kameras, die um ihn herumschwebten, katapultierte ihn jäh in die Realität zurück. Er schlug die Augen auf und versuchte dabei seinen Herzschlag zu beruhigen. Am Ende war er also doch eingeschlafen. Er hatte einen Albtraum gehabt … Oder mehrere Albträume nacheinander. Aus den Augenwinkeln sah er nach den grünlich phosphoreszierenden Zeigern seines Weckers. Zehn vor acht. Der Nachmittag war vergangen, ohne dass er es gemerkt hatte, und ihm blieb noch eine knappe halbe Stunde, um vor der Livesendung mit Alice das Drehbuch durchzugehen.
    Während die Kameras auf die Sprachbefehle des Regisseurs reagierten und ihre jeweilige Position einnahmen, konzentrierte Jason sich auf seine Dialogzeilen. Er war sehr geübt darin, Szenen auswendig zu lernen, und es fiel ihm nicht allzu schwer, sich die klischeehaften, ein wenig kitschigen Sätze zu merken, die Minervas Nachfolger für ihn geschrieben hatte. Er konnte sich sogar den Luxus erlauben, in Gedanken immer wieder zu den seltsamen Traumbildern der Siesta abzuschweifen, während er mit professioneller Gründlichkeit jedes Wort des Storyboards durchging.
    Alice kam pünktlich wie immer. Sie hatte sich die dunklen Haare zu einem Knoten hochgesteckt, der sie ein wenig älter machte, ihr aber dafür ein sehr kultiviertes Aussehen verlieh. Unter dem Trenchcoat trug sie ein für den Anlass ein wenig übertriebenes Abendkleid. Atemberaubendes Dekolleté, schwarzer Samt und ein eng am Hals anliegendes Diamantcollier, das wie ein außergewöhnlich luxuriöses Hundehalsband wirkte. Das Collier fand Jason besonders aufregend. Er beschloss, es ihr während der ganzen Szene nicht abzunehmen. Wenn sie nackt war, würden sich die Diamanten wunderbar von ihrer weißen Haut abheben. Die männlichen Zuschauer würden außer sich sein.
    Zunächst lief alles gut. Sie saßen eine Weile auf dem Sofa und sagten vollkommen natürlich die auswendig gelernten Sätze aus dem Drehbuch auf, was sie beide gut konnten. Manchmal strich Jason Alice über die Wange oder ließ die Fingerspitzen über ihren Hals gleiten. Dabei musste er jedes Mal an die Minerva aus seinem Traum denken, die voller Hingabe in seinen Armen gelegen hatte, und das lenkte ihn so ab, dass er immer ein paar Momente brauchte, bis er wieder in seine Rolle zurückgefunden hatte. Hinter Alice’ Maske entspannter Zufriedenheit entdeckte er fast unmerkliche Anzeichen von Irritation. Sie war es nicht gewohnt, dass er abgelenkt war; das war noch nie vorgekommen. Vielleicht befürchtete sie, von seiner mangelnden Aufmerksamkeit angesteckt zu werden und einen Fehler zu begehen, so wie eine Tänzerin, deren Partner einen falschen Schritt macht. Oder vielleicht war es nur verletzter Stolz und sie war gekränkt darüber, dass sie gar nicht so absolut über Jasons Gefühle herrschte, wie sie gedacht hatte.
    Nach einer knappen halben Stunde Techtelmechtel gingen sie ins Schlafzimmer. Ihnen folgte ein halbes Dutzend ferngesteuerter schwebender Scheinwerfer, deren sorgsam aufeinander abgestimmtes Licht augenblicklich eine warme, intime Atmosphäre schuf. Alice setzte sich auf den Bettrand und lächelte Jason aufreizend an, als sie anfing, langsam ihre Seidenstrümpfe abzustreifen. Er sah ihr fasziniert dabei zu und konnte den Blick nicht von ihren Beinen lösen.
    Und genau in diesem Moment, als er sich endlich ganz auf die Szene eingelassen hatte, wurde er für einen Sekundenbruchteil von einem silbrigen Blinken auf dem Schreibtisch abgelenkt. Es war sein Handy, das er vor Drehbeginn stumm gestellt hatte, das sich jedoch beim Empfang einer Nachricht kurz einschaltete.
    Er wandte sich wieder Alice zu, die nach wie vor dabei war, sich in einem langsamen Verführungsritual auszuziehen. Er tat alles, um sich auf ihren Körper zu konzentrieren, auf ihre großen, ernsten, vom Begehren

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