Verdammte Deutsche!: Spionageroman (German Edition)
wenn er irgendwo gesehen wird. Kell hat telegraphisch angeordnet, alle Fährhäfen nach dem Kontinent zu überwachen, ebenso alle in Frage kommenden Bahnhöfe in London. Seiler ist innerhalb Englands zu beobachten, er soll jedoch nicht festgenommen werden und darf keinen Verdacht schöpfen.
Drummond geht noch am selben Abend mit dem Edinburgher Detektiv von Hotel zu Hotel, um die Gästebücher einzusehen. Das ist fast sinnlos, weil Seiler aller Wahrscheinlichkeit nach unter falschem Namen reist, daher richtet er seine Aufmerksamkeit auf allein reisende Herren. In jedem Fall aber ergibt die Befragung des Hotelpersonals, daß keiner dieser Gentlemen in Frage kommt. Bisher fehlt von Seiler jede Spur.
Edinburgh, 10. August 1911, Donnerstag
Um 9 Uhr 40 nähert sich Seiler mit gemischten Gefühlen der Waverley Station. Er muß den Zehn-Uhr-Expreß nach London erreichen, den Reimers ihm genannt hat und den er nicht verpassen darf. Heute steht nur ein einzelner, baumlanger Constable vor dem Eingang. Das sieht schon besser aus. Er hat den auffälligen Strohhut in seinen Koffer gepackt und statt dessen eine dunkelgrüne Schiebermütze aufgesetzt. Die drückt er sich nun tiefer ins Gesicht und geht mutig auf die Treppe zu. Gott sei Dank herrscht reger Publikumsverkehr, Leute kommen und gehen. Und er hat Glück. Eine ältere Lady spricht den Polizisten an, und der beugt sich zu ihr hinab. Seiler hört ihn im Vorbeigehen sagen: » How may I help you, Madam?«
Die Bahnhofshalle ist voller Menschen, die hin und her eilen, herumschlendern oder auf ihren Zug warten. Trotzdem bemerkt er, daß mindestens ein Dutzend Polizisten in der Halle ist und aufmerksam die Vorbeigehenden beobachtet. Auch Detektive in Zivil scheinen sich für die Reisenden zu interessieren, Männer ohne Gepäck, ohne Zeitung, mit wachen Augen.
Er zögert, befiehlt sich aber sofort, scheinbar zielbewußt weiterzugehen. Da lacht ihm das Glück ein zweites Mal. Direkt vor ihm bleibt eine jüngere Frau mit einem schweren Koffer in jeder Hand stehen und sieht sich hilflos um. Unter den linken Arm hat sie auch noch eine große Hutschachtel geklemmt und dazu einen Beutel über der Schulter. Sie wirkt erschöpft, und Seiler bietet ihr seine Hilfe an. Sie will ebenfalls zum Expreß nach London und akzeptiert dankbar. Er nimmt ihr die Koffer ab, sie sind wirklich viel zu schwer für diese zierliche Person, gibt ihr dafür seinen kleinen zu tragen und geht neben ihr her, während sie ihm fröhlich erzählt, daß sie ihre Schwester in York besuchen will. Munter plaudernd besteigen sie den Zug, als wären sie ein Ehepaar. Die Polizisten, vielleicht beauftragt, nach einem einzelnen Mann zu suchen, ignorieren sie nach einem kurzen Blick.
Bis York sitzen sie sich im selben Abteil gegenüber, dann verabschiedet sie sich und steigt aus. Seiler reicht ihr Koffer und Hutschachtel nach, und sie bedankt sich noch einmal überschwenglich. Schon eilt eine Frau mit einem spitzen Freudenschrei auf sie zu, das wird ihre Schwester sein. Die wird ihr weiterhelfen.
Knapp sieben Stunden später erreicht der Zug Peterborough. Reimers erwartet ihn auf dem Bahnsteig. Er hat sich mit Backenbart und Hornbrille unkenntlich gemacht und spricht Seiler an, der sich suchend nach ihm umsieht. Sie bleiben auf dem Bahnsteig stehen, bis der Zug wieder abfährt, denn Reimers will sich vergewissern, daß niemand Seiler gefolgt und ebenfalls ausgestiegen ist. Er hat vor, einen Anschlußzug nach Ely zu nehmen und von dort mit der Great Eastern Railway über Cambridge weiter nach London zu fahren. Sie werden dann in der Liverpool Station ankommen. Falls Seiler in Edinburgh aufgefallen wäre, würde die Polizei davon ausgehen, er käme mit dem Flying Scotchman zurück, der im Kings Cross Terminus endet. Während sie warten, berichtet ihm Seiler, was er in Rosyth gesehen hat, und auch, wie bewacht Edinburghs Bahnhof bei seiner Abreise war.
Nach einer halben Stunde wird ihr Zug bereitgestellt, ein kurzer Personenzug oder Local, wie er hier genannt wird, mit einer grünen Lokomotive. Reimers wählt eins der wenigen Abteile der ersten Klasse, und nachdem der Kondukteur ihre Fahrkarten kontrolliert hat, verriegelt er die Tür und zieht die Vorhänge zum Gang zu. Aus einer großen Reisetasche holt er eine braune, karierte Jacke hervor sowie eine passende Mütze und weist Seiler an, sich umzuziehen. Dann klebt er ihm einen dunkelblonden Schnurrbart an. Schließlich gibt er ihm noch eine Drahtgestellbrille sowie
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